Ausgabe_a
Das therapeutische Potenzial
von Cannabis und Cannabinoiden
Franjo Grotenhermen, Kirsten Müller-Vahl
Die Erkenntnisse zum therapeutischen Potenzial
von Cannabisprodukten wurden in den vergan-
Hintergrund: Seit der Entdeckung des endogenen Cannabi-
genen Jahren durch eine große Zahl klinischer Studi-
noid-Rezeptorsystems vor etwa 20 Jahren werden Medi-
en erheblich verbessert (1–5). Bereits im Oktober
kamente auf Cannabisbasis intensiv erforscht. Im Jahr
2008 erklärten daher die Bundesärztekammer, die
2011 wurde in Deutschland erstmals ein Cannabisextrakt
Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Arznei-
mittelkommission der deutschen Ärzteschaft anläss-
Methode: Selektive Literaturrecherche
lich einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des
Ergebnisse: Die klinischen Wirkungen von Cannabismedi-
Deutschen Bundestags: „Der Nutzen einer Therapie
kamenten sind in der Mehrzahl auf eine Aktivierung von
mit Cannabinoiden ist für einige medizinische Indi-
endogenen Cannabinoid-CB1- und CB2-Rezeptoren zu-
kationen durch kontrollierte Studien dargestellt wor-
rückzuführen. Seit 1975 wurden mehr als 100 kontrollierte
den, in denen überwiegend standardisierte und/oder
klinische Studien mit Cannabinoiden oder Ganzpflanzen-
synthetische Cannabinoidpräparate verwendet wur-
zubereitungen bei unterschiedlichen Indikationen durch-
den. Der Einsatz dieser Präparate kann demnach bei
geführt. Die Ergebnisse dieser Studien führten in zahl -
Patienten, die unter einer konventionellen Behand-
reichen Ländern zur Zulassung von Medikamenten auf
lung keine ausreichende Linderung von Symptomen
Cannabisbasis (Dronabinol, Nabilon und einem Cannabis-
wie Spastik, Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder
extrakt [THC : CBD = 1 : 1]). In Deutschland ist dieser
Appetitmangel haben, sinnvoll sein" (6). Im Jahr
Cannabisextrakt seit 2011 für die Behandlung der mittel-
2011 wurde nun erstmalig in Deutschland ein Medi-
schweren oder schweren therapieresistenten Spastik bei
kament auf Cannabisbasis arzneimittelrechtlich zu-
multipler Sklerose zugelassen. Eine „off-label"-Behand-
gelassen. Nachfolgend wird der aktuelle Kenntnis-
lung erfolgt derzeit am häufigsten bei Appetitlosigkeit,
stand zum therapeutischen Nutzen von Cannabisme-
Übelkeit und neuropathischen Schmerzen. Alternativ kön-
nen Patienten bei der Bundesopiumstelle eine Ausnahme-erlaubnis zum Erwerb von Medizinal-Cannabisblüten im
Rahmen einer ärztlich überwachten Selbsttherapie bean-
Diese Übersicht basiert auf einer Recherche in der
tragen. Die häufigsten Nebenwirkungen von Cannabinoiden
medizinischen Datenbank PubMed (Januar 2000 bis
sind Müdigkeit und Schwindel (> 1/10), psychische Effekte
Dezember 2011) mit den Stichworten „cannabi* or
und Mundtrockenheit. Gegenüber diesen Nebenwirkungen
marijuana or THC or endocannabinoid". Zudem wur-
entwickelt sich fast immer innerhalb kurzer Zeit eine
den Übersichten aus Standardwerken (1–5) sowie die
Toleranz. Entzugssymptome stellen im therapeutischen
Studiendatenbank der IACM (International Associa-
Kontext kaum jemals ein Problem dar.
tion for Cannabinoid Medicines) ausgewertet. Bei
Schlussfolgerungen: Es gilt heute als erwiesen, dass
der Darstellung des therapeutischen Potenzials wur-
Cannabinode bei verschiedenen Erkrankungen einen
den ausschließlich Ergebnisse aus randomisierten
therapeutischen Nutzen besitzen.
kontrollierten Studien berücksichtigt.
Grotenhermen F, Müller-Vahl K: The therapeutic
Seit Jahrhunderten werden in vielen Kulturen Medi-
potential of cannabis and cannabinoids.
kamente auf Cannabisbasis zu therapeutischen Zwe-
Dtsch Arztebl Int 2012; 109(29–30):495–501.
cken eingesetzt (7). In Europa wurden sie Ende des
19. Jahrhunderts zur Behandlung von Schmerzen, Spasmen, Asthma, Schlafstörungen, Depression und Appetitlosigkeit verwendet. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren diese Medikamente nahe-zu vollständig an Bedeutung, auch weil es lange Zeit nicht gelang, die chemische Struktur der Inhaltsstof-
nova-Institut GmbH, Chemiepark Knapsack, Hürth: Dr. med. Grotenhermen
fe der Cannabispflanze
(Cannabis sativa L.) zu ermit-
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover: Prof. Dr. med. Müller-Vahl
teln. Erst 1964 konnte (-)-trans-Delta-9-Tetrahydro-
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drei Jahre später der (überwiegend peripher lokali-
sierte und vor allem von Zellen des Immunsystems exprimierte) CB2-Rezeptor (9). CB1-Rezeptoren
Definitionen und Medikamente
wurden mittlerweile nicht nur im ZNS, sondern auch in vielen peripheren Organen und Geweben nachge-
THC ist die Abkürzung für Tetrahydrocannabinol. Mit
wiesen, etwa in Immunzellen, Milz, Nebennieren,
THC ist – wenn nicht anders kenntlich gemacht – das in
sympathischen Ganglien, Pankreas, Haut, Herz,
der Hanfpflanze
(Cannabis sativa L.) vorkommende na-
Blutgefäßen, Lunge und in Teilen des Urogenital-
türliche (-)-trans-Isomer des Delta-9-Tetrahydrocannabi-
und des Magendarmtrakts. Nur die Aktivierung des
nol gemeint. Es ist für die meisten pharmakologischen
Wirkungen, darunter die psychischen Effekte der Pflan-
1-Rezeptors – nicht aber die des CB2-Rezeptors –
führt zu den bekannten psychotropen Wirkungen. Im
ze, verantwortlich.
Jahre 1992 gelang der Nachweis endogener Cannabi-noidrezeptor-Agonisten. Die beiden wichtigsten En-
Dronabinol ist der Internationale Freiname (INN) für
docannabinoide sind Anandamid (Arachidonoyletha-
(-)-trans-Delta-9-Tetrahydrocannabinol und wird syno-
nolamid) und 2-Arachidonoylglycerol (10). Seit der
nym mit der Bezeichnung THC gebraucht. Dronabinol
Entdeckung dieses komplexen endogenen Cannabi-
ist in Deutschland in der Anlage III BtMG eingestuft und
noid-Rezeptorsystems gilt es als erwiesen, dass Can-
mittels BtM-Rezept als Fertigarzneimittel oder als Re-
nabinoide zahlreiche physiologische Wirkungen be-
zepturarzneimittel verschreibungsfähig. Das kapsulierte
Fertigpräparat ist in Dosen zu 2,5 mg, 5 und 10 mg
Im zentralen und im peripheren Nervensystem be-
verfügbar. Es ist in den USA für die Behandlung der
steht eine vielfältige Wechselwirkung zwischen dem
Übelkeit bei Krebschemotherapie sowie bei Appetit -
losigkeit bei Gewichtsverlust von Aids-Patienten
1-Rezeptorsystem und zahlreichen Neurotrans-
mittern und Neuromodulatoren (10). So führt die Ak-
arzneimittelrechtlich zugelassen.
tivierung von CB1-Rezeptoren zu einer retrograden
Hemmung der neuronalen Freisetzung von Acetyl-
CBD oder Cannabidiol ist das wichtigste nicht
cholin, Dopamin, GABA, Histamin, Serotonin, Glu-
psychotrope Cannabinoid der Hanfpflanze. Es ist kein
tamat, Cholezystokinin, D-Aspartat, Glyzin und
Noradrenalin. Der CB1-Rezeptor ist der im ZNS am
weitesten verbreitete G-Protein-gekoppelte Rezep-
Nabilon ist ein synthetischer THC-Abkömmling. Es ist
tor. Diese komplexen Interaktionen erklären nicht
in Großbritannien für die Behandlung der Übelkeit bei
nur die Vielzahl der physiologischen Wirkungen der
Krebschemotherapie zugelassen. 1 mg Nabilon wirkt
Endocannabinoide, sondern auch die pharmakologi-
etwa so stark wie 7–8 mg Dronabinol.
schen Wirkungen von Cannabiszubereitungen.
Cannabisextrakt Nabiximols. In 2011 wurde ein alko-
Pharmakologie von Cannabis und
holischer Cannabisextrakt zugelassen, der auf Dronabi-
nol und CBD im Verhältnis 1 : 1 standardisiert ist und mit
Cannabis enthält neben THC, dem am stärksten psy-
einer Dosierpumpe in den Mund gesprüht wird. Es ist
chotrop wirksamen Inhaltsstoff, eine große Zahl wei-
das bisher einzige in Deutschland arzneimittelrechtlich
terer Cannabinoide und Pflanzenstoffe (11). Die
zugelassene Medikament auf Cannabinoid-Basis
meisten Wirkungen von Cannabiszubereitungen be-
(zur Behandlung der Spastik bei MS). Ein Hub enthält
ruhen auf der agonistischen Wirkung von THC an
2,7 mg THC und 2,5 mg CBD.
den verschiedenen Cannabinoidrezeptoren (12). Ein-zelne Effekte sind aber auch auf eine Wirkung an an-deren Rezeptorensystemen zurückzuführen. So wird beispielsweise angenommen, dass die Verminderung von Übelkeit und Erbrechen zum Teil durch eine an-tagonistische Wirkung am serotonergen 5-Hydroxy-
cannabinol (THC, Dronabinol), der wichtigste In-
tryptamin (HT)3-Rezeptor hervorgerufen wird.
haltsstoff von Cannabis, stereochemisch definiert
Manche Effekte von Cannabiszubereitungen wer-
werden (8). Dies und nachfolgend die Entdeckung den durch die Wirkungen anderer Cannabinoide als eines körpereigenen Cannabinoidsystems mit spezi-
THC verursacht. So hat beispielsweise CBD – das
fischen Rezeptoren und endogenen Liganden war der
Cannabinoid, das in vielen Cannabissorten nach
Beginn intensiver Forschungen zur Funktion des En-
THC in der höchsten Konzentration vorkommt – an-
docannabinoidsystems und der klinischen Bedeutung
tiemetische, neuroprotektive und antiinflammatori-
von Medikamenten auf Cannabisbasis.
sche Eigenschaften. Zu seinen komplexen Wirkme-chanismen zählen eine antagonistische Wirkung am
CB1-Rezeptor, eine Stimulation des Vanilloid-1-Re-
Bis heute wurden zwei endogene Cannabinoidrezep-
zeptors, eine Hemmung der Hydrolyse von Ananda-
toren identifiziert. Im Jahre 1990 wurde der (über-
mid (10) und eine Aktivierung des Zellkernrezeptors
wiegend zentral gelegene) CB1-Rezeptor geklont, PPAR-Gamma (13).
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Übersicht über kontrollierte Studien mit Cannabismedikamenten in etablierten Indikationen*1
Anzahl randomisierter kontrollierter Studien
(zum Teil dreiarmig)
N = 12 (Dronabinol: [e1, e2, e4–e6]; Cannabis:
[e1–e3, e6–e12]) bei multipler Sklerose
N = 3, (Dronabinol: [e13–e14]; Nabilon: [e15] bei
N = 3 (e13–e15)
Übelkeit und Erbrechen
N = 41, (Dronabinol: [e16–e34]; Cannabis geraucht:
durch Zytostatika
[e25]; Cannabisextrakt: [e35]; Nabilon: [e36–e52];
Levonantradol: [e53–e56])
Appetitlosigkeit/
N = 7, (Dronabinol: [e59–e65]; Cannabis geraucht: [e63–e65]) N = 7
N = 4, (Dronabinol: [e66–e68]; Cannabisextrakt: [e69]) bei
unterschiedlichen Tumorerkrankungen
N = 1, (Dronabinol: [e70]) bei M. Alzheimer
Chronische Schmerzen
N = 14, (Dronabinol: [e71–e74]; Nabilon: [e75, e76];
Cannabisextrakt: [e73, e74, e77–e79]; gerauchter Cannabis:
(e71, e73–e75,
[e80–e83]; CT3 (ajulemische Säure): [e84]) bei neuropathi-
schen Schmerzen oder Schmerzen bei MS
N = 12 (Dronabinol: [e85–e87, e93]; NIB: [e88];
Benzpyranoperidin: [e89]; Cannabisextrakt: [e87, e90, e94];
([e85, e86, e87]
([e87] Dronabinol,
Nabilon: [e91, e92, e96]; Cannabis geraucht: [e95]) bei
Cannabisextrakt,
chronischen Schmerzen (Krebs, Rheuma, Fibromyalgie)
[e88, e90–e96])
*1 Eine vollständige Liste klinischer Studien mit Cannabismedikamenten befindet sich auf der Internetseite der IACM (24).
Spastik, Zytostatika induzierte Übelkeit und Erbrechen,
Cannabiszubereitungen üben eine Vielzahl therapeuti-
Anorexie bei HIV/Aids und chronische Schmerzen be-
scher Wirkungen aus, darunter antispastische, analgeti-
findet sich in der
Tabelle.
sche, antiemetische, neuroprotektive, antiinflammatori-sche sowie Wirkungen bei psychiatrischen Erkrankun-
gen. Zugelassen ist in Deutschland seit 2011 allerdings Im Jahre 2011 wurde von Novotna et al. eine große Stu-ausschließlich ein Cannabisextrakt, der THC und CBD die zur Behandlung der Spastik bei Multipler Sklerose im Verhältnis 1:1 enthält, für die Behandlung der mittel-
publiziert, die in der Folge zur Zulassung des Extraktes
schweren bis schweren, therapieresistenten Spastik bei in dieser Indikation in Deutschland führte (e12). Von 572 Multipler Sklerose (MS). Im Juni 2012 hat der Gemeinsa-
Patienten, die primär in die Studie eingeschlossen wur-
me Bundesausschuss (G-BA) über die Nutzenbewertung den, sprachen 272 Patienten (47,6 %) während einer des Cannabisextraktes in dieser Indikation beschlossen vierwöchigen einfachblinden Behandlung auf die Thera-und einen „geringen Zusatznutzen" festgestellt. Es wurde
pie an (= Reduktion der Spastik um > 20 %) und nahmen
eine befristete Genehmigung bis zum Jahre 2015 erteilt.
anschließend an einer zwölfwöchigen, doppelblinden,
In Deutschland und international ist dieser Canna-
placebokontrollierten zweiten Studienphase teil (en
bisextrakt unter dem Freinamen Nabiximols als Sublin-
riched-design). Im Vergleich zu Placebo verbesserte der
gualspray arzneimittelrechtlich zugelassen. Dronabinol
Cannabisextrakt Spastik, Spasmenhäufigkeit und Schlaf-
ist in den USA bereits seit 1985 für die Behandlung von
qualität signifikant
(Tabelle).
Übelkeit und Erbrechen aufgrund einer Zytostatikathe-
rapie sowie seit 1992 bei Appetitlosigkeit im Rahmen
Zytostatika induzierte Übelkeit und Erbrechen
einer Kachexie bei HIV/Aids zugelassen. Nabilon ist in
Eine Vielzahl von Studien, die mehrheitlich bereits in den
Großbritannien ebenfalls zur Behandlung von Neben-
70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
wirkungen einer Chemotherapie bei Krebserkrankun-
durchgeführt wurde, belegt, dass Cannabinoide in der Be-
gen arzneimittelrechtlich zugelassen
(Kasten 1).
handlung von Übelkeit und Erbrechen infolge einer Che-
Neben diesen als gesichert geltenden Indikationen gilt
motherapie ebenso oder sogar etwas stärker wirksam sind
– trotz weltweit fehlender Zulassung – wegen der positi-
als damals gebräuchliche Antiemetika (zum Beispiel Phe-
ven Ergebnisse zahlreicher kleiner kontrollierter Studien
nothiazine wie Prochlorperazin und Dopaminantagonisten
auch die analgetische Wirkung von Cannabinoidrezept-
wie Metoclopramid) (e16–e56)
(Tabelle). Zudem liegen
or-Agonisten – insbesondere bei neuropathischen Hinweise vor, dass niedrigdosiertes Dronabinol (2 × Schmerzen – als gut belegt. Eine Übersicht über alle vor-
2,5 mg) eine additive Wirkung bei gleichzeitiger Behand-
liegenden kontrollierten Studien zu den Indikationen lung mit modernen Antiemetika aufweist (e34). In der
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oder unwirksam bei akuten Schmerzen (e97–e104).
In einer Parallelgruppenstudie mit gerauchtem Cannabis bei 50 Patienten mit HIV-assoziierten neu-
ropathischen Schmerzen reduzierte Cannabis die
Schmerzen im Mittel um 34 % (versus 17 % unter Placebo). In der Cannabisgruppe trat bei 52 % eine
Kontraindikationen bestehen bei:
Schmerzreduzierung > 30 % (24 % in der Placebo-
– Überempfindlichkeit gegen einzelne Bestandteile
gruppe) ein (e80). In einer kreuzkontrollierten Studie
(n = 24) reduzierte Dronabinol (bis 10 mg/d) MS-be-
– schweren Persönlichkeitsstörungen und
dingte Schmerzen im Mittel um 3 Punkte (Skala von
0–10), verglichen mit 0 Punkten unter Placebo (e71). Kleine kontrollierte Studien ergaben Hinweise dar -auf, dass Cannabinoide auch bei chronischen
strenge Indikationsstellung bei:
Schmerzen anderer Ursachen (Tumorschmerz, Rheu-
– Schwangerschaft und stillenden Müttern wegen
ma, Fibromyalgie) wirksam sind (e85–e96).
möglicher Entwicklungsstörungen des Kindes
– Kindern und Jugendlichen (vor der Pubertät). Der
Darüber hinaus liegen kleine randomisierte, kontrol-
zugelassene Cannabisextrakt wird vom Hersteller zur
lierte Studien mit positiven Ergebnissen unter ande-
Anwendung bei Kindern oder Jugendlichen unter
rem zu folgenden Erkrankungen und Symptomen vor:
18 Jahren nicht empfohlen, da nicht ausreichend
Harnblasendysfunktion bei MS (e105–e107)
Daten zur Sicherheit und zur Wirksamkeit vorliegen.
Tics beim Tourette-Syndrom (e108, e109) und
– älteren Menschen, da eine größere Anfälligkeit für
levodopainduzierte Dyskinesien bei M. Parkin-
zentralnervöse und kardiovaskuläre Nebenwirkungen
Für zahlreiche weitere Erkrankungen und Sym -
ptome werden positive Wirkung von Cannabinoiden
– schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen
lediglich in Fallberichten und kleinen offenen un-
kontrollierten Studien beschrieben, so dass wegen
– Suchterkrankungen
der mangelhaften Datenlage derzeit noch keine ab-schließende Bewertung möglich ist.
Therapie der verzögert eintretenden Übelkeit (2–5 Tage ten (Dronabinol, Nabilon) weisen sehr ähnliche, nach Zytostatikagabe) war Dronabinol ebenso wirksam wenn nicht identische Nebenwirkungen auf (14). wie das Antiemetikum Ondansetron (e34). Insgesamt gel-
Von Drogenkonsumenten wird Cannabis vor allem
ten Cannabinoide heute als Reservemedikamente bei Zy-
wegen seiner psychischen Eigenschaften geraucht,
tostatika induzierter Übelkeit und Erbrechen (e57, e58).
die bei Dosierungen oberhalb der individuell varia-blen psychotropen Schwelle eintreten. Diese akute
Anorexie und Kachexie bei HIV/Aids
psychische Wirkung wird im Allgemeinen als ange-
Alle bisher veröffentlichten Studien (n = 7) haben eine
nehm und entspannend empfunden. Oft geht sie mit
positive Wirkung von Dronabinol und gerauchtem einer Steigerung der sensorischen Wahrnehmung Cannabis in der Therapie der Appetitlosigkeit bei HIV-
einher. Das gesteigerte Wohlbefinden kann aller-
Patienten gezeigt (e59, e65)
(Tabelle). In einer sechs-
dings auch in eine Dysphorie umschlagen. Auch
wöchigen doppelblinden, Placebo kontrollierten Stu-
Angst und Panik können auftreten. Weitere akute
die mit 139 Patienten war Dronabinol Placebo signifi-
psychische Wirkungen von Cannabinoiden sind eine
kant überlegen: Während das Körpergewicht unter Beeinträchtigung des Gedächtnisses, der psychomo-Dronabinol (2 × 2,5 mg) konstant blieb, nahmen Pa-
torischen und kognitiven Leistungsfähigkeit, Störun-
tienten in der Placebogruppe im Mittel 0,4 kg ab (e60).
gen der Zeitwahrnehmung und Euphorie.
In einer dreiarmigen Studie war niedrigdosiertes Dro-
Nach wie vor wird kontrovers diskutiert, ob starker
nabinol (2 × 2,5 mg) hochdosiertem Megestrolazetat Cannabiskonsum langfristig Auswirkungen auf die (750 mg) unterlegen (e61). Auch bei Patienten mit Tu-
kognitive Leistungsfähigkeit hat. Nach derzeitigem
morerkrankungen (e66–e69) und M. Alzheimer waren Kenntnisstand ist davon auszugehen, dass nur ein sehr Cannabinoide in der Behandlung von Appetitlosigkeit starker Konsum – wie er zu therapeutischen Zwecken und Gewichtsverlust wirksam (e70).
kaum je eingesetzt wird – zu irreversiblen kognitiven Einbußen führt (15–16). Hingegen gilt als gesichert,
dass das Risiko bei Jugendlichen (insbesondere vor
Cannabinoide sind vor allem bei (chronischen) neu-
der Pubertät) deutlich erhöht ist. Daher sollte eine
ropathischen Schmerzen und Schmerzen bei MS (Langzeit-)Behandlung mit Cannabinoiden in diesem wirksam (e71–e84)
(Tabelle), hingegen schlecht Alter sehr sorgfältig abgewogen werden
(Kasten 2).
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Bei Personen mit entsprechender Vulnerabilität
kann der Konsum von Cannabis eine schizophrene Psychose induzieren. Bei Jugendlichen verdoppelt sich durch den Konsum von Cannabis nach gegenwär-
Fahrtüchtigkeit und Bedienen von Maschinen
tigem Kenntnisstand das Risiko für die Entwicklung
Während der Einnahme von Cannabinoiden können die Fahrtüchtigkeit und
einer Schizophrenie (17). Eine Psychose gilt daher als
die Fähigkeit zum Bedienen von Maschinen eingeschränkt sein. Dies gilt ins-
Kontraindikation für eine Behandlung mit Cannabis-
besondere zu Beginn der Therapie, in der Dosisfindungsphase und bei einer
medikamenten, auch wenn zwei Fallberichten zufolge
späteren erneuten Dosisänderung.
THC sogar in der Behandlung der therapieresistenten
Häufig entwickelt sich bei einer konstanten Dosierung und einer Therapie über
Schizophrenie wirksam war (e111, e112).
einen längeren Zeitraum eine Toleranz gegen Einschränkungen der psycho-
Häufige akute körperliche Wirkungen von Cannabi-
motorischen Leistungsfähigkeit, so dass eine Teilnahme am Straßenverkehr
noiden sind Müdigkeit, Schwindel, Tachykardie, ortho-
dann uneingeschränkt möglich ist (e117).
statische Hypotension, Mundtrockenheit, reduzierter Tränenfluss, Muskelrelaxation und Steigerung des Ap-
Durch eine Behandlung mit Cannabismedikamenten kann sich – wegen der
petits. Regelmäßiger Cannabiskonsum kann kleineren
dadurch eingetretenen Symptomverbesserung – die Fähigkeit zum Führen ei-
epidemiologischen Studien zufolge die Entwicklung ei-
nes Kraftfahrzeuges (im Vergleich zur Nichtbehandlung) sogar deutlich ver-
ner Leberzirrhose bei bestehender Hepatitis C be-
bessern (e118, e119).
schleunigen (18). Es wurden bisher keine akuten To-desfälle beschrieben, die eindeutig allein auf den Kon-sum von Cannabis oder eine Behandlung mit Cannabi-noiden zurückgeführt werden können. Allerdings kann sich bei entsprechender Prädisposition das Herzinfarkt-
risiko durch die Kreislaufwirkungen von Cannabinoi-den erhöhen.
Für viele der unter Cannabinoiden eintretenden un-
Therapiemöglichkeiten mit Cannabis in Deutschland
erwünschten akuten Wirkungen – besonders Müdig-
Verordnung von Dronabinol, Nabilon oder einem Cannabisextrakt auf einem
keit, Schwindel, kardiovaskuläre und psychische Effek-
Betäubungsmittelrezept durch einen Arzt
te – entwickelt sich innerhalb von Tagen und Wochen
Ein BTM-Rezept für die Verordnung von Dronabinol als Rezepturarzneimittel
eine Toleranz (e113–e116). Lediglich bei starkem Can-
könnte wie folgt ausgestellt werden: „Ölige Dronabinol-Tropfen 2,5 %, 10 mL
nabiskonsum können nach dem abrupten Absetzen von
(entsprechend 250 mg Dronabinol), Dosierung einschleichend beginnend mit
Cannabis Entzugssymptome – die in Charakter und In-
2 × 3 Tropfen (2 × 2,5 mg).
tensität mit den Symptomen eines abrupten Tabakent-zuges vergleichbar sind – eintreten wie innere Unruhe,
Beantragung einer Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG zur Verwendung
Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, vermehrtes Schwitzen und
von Cannabis bei der Bundesopiumstelle zur Anwendung im Rahmen einer
Appetitlosigkeit (19). Im Rahmen einer kontrollierten
medizinisch betreuten und begleiteten Selbsttherapie durch einen Patienten
medizinischen Anwendung von Cannabinoiden stellen Entzugssymptome hingegen nur ausnahmsweise ein Problem dar (20). Zu Fragen der Fahrtüchtigkeit siehe
Kasten 3.
Wechselwirkungen
Da THC vor allem in der Leber durch Zyto-
chrom-P-450-Isoenzyme (hauptsächlich CYP2C) ver-
Dosierung von Cannabinoiden
stoffwechselt wird, kann es zu Interaktionen mit ande-
Einschleichende Dosierung
ren Medikamenten kommen, die auf gleichem Wege
Beginn mit 1–2 × 2,5 mg Dronabinol, 1 × 1 mg Nabilon oder 1 Sprühstoß
metabolisiert werden (10). Das Rauchen von Cannabis
Cannabisextrakt täglich
kann den Plasmaspiegel einzelner Antipsychotika (Clo-zapin, Olanzapin) reduzieren. Hingegen konnten weder
Alle 1 bis 2 Tage um eine Einheit (2,5 mg Dronabinol, 0,5 mg Nabilon,
bei Aids- noch bei Krebspatienten Änderungen der Plas-
1 Sprühstoß Cannabisextrakt) steigern bis zum Erreichen der gewünschten
maspiegel verschiedener antiretroviraler Medikamente
Wirkung oder dem Eintritt von Nebenwirkungen
oder von Zytostatika durch eine zusätzliche Behandlung
Beim Auftreten von Nebenwirkungen um eine Einheit reduzieren.
mit Cannabinoiden festgestellt werden (21, 22).
Die zugelassene maximale Tageshöchstdosis für den Cannabisextrakt
Interaktionen mit Cannabinoiden beruhen am häu-
Nabiximols beträgt 12 Sprühstöße/Tag.
figsten auf einer Aktivierung gleicher Effektorsysteme
Therapeutische Dosierungen von Dronabinol liegen – je nach Indikation und
im Sinne einer gegenseitigen Wirkverstärkung oder
individuellem Ansprechen und Verträglichkeit – üblicherweise zwischen 5 und
–abschwächung (23). Klinisch von Bedeutung ist ins-
besondere eine Zunahme der Müdigkeit bei gleichzeiti-ger Einnahme anderer psychotrop wirksamer Substan-
Übliche Tagesdosen für Nabilon liegen bei 1–4 mg, im Allgemeinen beträgt
zen (wie Alkohol und Benzodiazepine) und Wechsel-
die Dosis nicht mehr als 6 mg.
wirkungen mit Medikamenten, die ebenfalls auf das
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Herz-Kreislauf-System wirken (etwa Amphetamine,
Eine solche Off-label-Behandlung mit Cannabis-
Atropin und Betablocker). Allerdings können additive medikamenten wird in der täglichen Praxis allerdings Wirkungen auch erwünscht sein, etwa bei gleichzeiti-
dadurch erschwert, dass die gesetzlichen Krankenkas-
ger Behandlung mit Cannabinoiden und Antispastika, sen meist eine Kostenübernahme ablehnen. Um mög -Broncholytika, Analgetika, Antiemetika und in der liche spätere Regressforderungen zu vermeiden, sollte Glaukom-Therapie.
vor einer Verschreibung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse die Frage der Kostenübernahme geklärt
Praktische Hinweise zur Verwendung in
werden. Eine Verordnung per Privatrezept zulasten des
Patienten kann jederzeit erfolgen.
Eine ärztlich überwachte Therapie mit Cannabis be-
ziehungsweise einzelnen Cannabinoiden kann in
Behandlung mit Cannabis auf Grundlage einer Ausnahme-
Deutschland gegenwärtig auf zwei verschiedenen
erlaubnis nach BtMG
Wegen erfolgen: Einerseits können mittels Betäu-
Alternativ können Patienten bei der Bundesopium-
bungsmittel (BTM)-Rezept der Cannabiswirkstoff stelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medi-Dronabinol (THC) – als Fertig- oder als Rezeptur -
zinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis nach
arzneimittel –, der synthetische THC-Abkömmling § 3 Abs. 2 BtMG zum Erwerb von Medizinal-Canna-Nabilon und ein Cannabisextrakt (als Fertigarznei-
bisblüten zur Anwendung im Rahmen einer ärztlich
mittel in Form eines Sublingualsprays) rezeptiert begleiteten Selbsttherapie beantragen. Zur Erleichte-werden. Andererseits kann eine medizinische Ver-
rung des Verfahrens stehen auf der Homepage des
wendung von Cannabis in Form von Cannabiskraut BfArM Hinweise für Patienten und Ärzte sowie alle erfolgen. Dies bedarf allerdings einer Ausnahmege-
Antragsformulare zur Verfügung. Im Antrag muss
nehmigung nach § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelge-
der Patient darlegen, dass andere Therapien nicht
setzes (BtMG)
(Kästen 4, 5).
ausreichend wirksam waren und eine Behandlung mit anderen Cannabismedikamenten nicht möglich
Verschreibung von Cannabismedikamenten mittels BTM-Rezept
ist, etwa weil die Kosten einer Behandlung mit ver-
Fertigarzneimittel mit den Wirkstoffen Nabilon und schreibungsfähigen Cannabismedikamenten nicht Dronabinol sind in den USA und Großbritannien so-
von der Krankenkasse übernommen werden. Dem
wie anderen Ländern im Verkehr und können auf Antrag muss eine ärztliche Stellungnahme beigefügt Grundlage des § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz auch werden. Die Kosten für diese Behandlung müssen in Deutschland rezeptiert werden. Apotheken erhal-
vom Patienten getragen werden.
ten diese Medikamente über entsprechende Import-firmen. Die Kosten für diese Dronabinol haltigen Fertigarzneimittel sind jedoch höher als entsprechen-
Zur Anfertigung eines Dronabinol haltigen Rezep-
Die klinische Wirkung der verschiedenen Medikamente
turarzneimittels hat der Deutsche Arzneimittelkodex
auf Cannabisbasis beruht in erster Linie auf einer Akti-
des Bundes Deutscher Apothekerverbände eine
vierung des endogenen Cannabinoid-Rezeptor-Sys-
entsprechende Rezepturvorschrift herausgegeben.
tems mit überwiegend zentral gelegenen CB1- und peri-
Ausgehend von einem in Deutschland von zwei
pher lokalisierten CB2-Rezeptoren.
Unternehmen hergestellten Wirkstoff können in der
Im Jahr 2011 wurde in Deutschland ein Cannabisextrakt
Apotheke eine ölige oder alkoholische Tropfen
arzneimittelrechtlich für die Behandlung der mittel-
lösung oder Kapseln zubereitet werden.
schweren bis schweren, therapieresistenten Spastik bei
Grundsätzlich können Ärzte aller Fachrichtungen
multipler Sklerose zugelassen.
– ohne besondere Zusatzqualifikation – Dronabinol (sowohl als Fertig- als auch als Rezepturarzneimit-
Eine ärztlich überwachte Therapie kann durch eine
tel), Nabilon und den zugelassenen Cannabisextrakt
Verschreibung mittels Betäubungsmittel (BTM)-Rezept
auch außerhalb der zugelassenen Indikationen (off-
für den Cannabiswirkstoff Dronabinol (THC) – als Fer-
label) im Rahmen eines individuellen Heilversuchs
tig- oder als Rezepturarzneimittel –, den synthetischen
verordnen. Eine zulassungsüberschreitende Anwen-
THC-Abkömmling Nabilon und einen Cannabisextrakt
dung von Medikamenten auf Cannabisbasis erfolgt
als Sublingualspray erfolgen.
derzeit am häufigsten:
Alternativ können Patienten eine Ausnahmegenehmi-
in der Palliativmedizin zur Steigerung des Ap-
gung bei der Bundesopiumstelle für eine Behandlung
petits und Linderung von Übelkeit
mit Medizinal-Cannabisblüten beantragen.
zur Behandlung chronischer Schmerzen (häufig
in Kombination mit Opiaten)
Etablierte Indikationen für eine Therapie mit Cannabis-
zur Behandlung von Spastik anderer Ursachen
medikamenten sind Spastik bei multipler Sklerose,
als MS (etwa bei Patienten mit Querschnittsläh-
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Prof. Müller-Vahl erhielt Erstattung von Teilnahmegebühren für Kongresse so-
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erhielt sie Honorare für die Durchführung von klinischen Auftragsstudien und Gelder für ein von ihr initiiertes Forschungsvorhaben von Böhringer Ingelheim.
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@ Mit „e" gekennzeichnete Literatur:
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The English version of this article is available online:
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Source: http://www.hanfland.at/wp-content/uploads/2014/11/CBD.pdf
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