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Der Neue Extraktivismus – Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika 2012 FDCL e.V. und Rosa-Luxemburg-Stift ung, BerlinFDCL-Verlag, Gneisenausstr. 2a, 10961 Berlin Hrsg.:Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin, Telefon: + 49-(0)30 6934029, E-Mail: [email protected], Internet: www.fdcl.orgRosa-Luxemburg-Stift ung Gesellschaft sanalyse und politische Bildung e. V.
Franz-Mehring Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: +49-(0)30-44310-0, Fax: +49-(0)30-44310230, E-Mail: [email protected], Internet: www.rosalux.de Dieses Werk bzw. Inhalt steht unter einer Creative Com-mons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBear-beitung 3.0 Deutschland Lizenz. (CC BY-NC-ND 3.0) [htt p://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/]. Jede Nutzung, die durch diese Lizenz oder das Urheberrecht nicht ausdrücklich gestatt et ist, ist untersagt.
Umschlagfoto: Potosí, Spiegelung des Cerro Rico, Olmo Calvo Rodriguez, SUB (cooperativa de fotográfos), Kontakt: [email protected], htt p://www.sub.coop.
Redaktion: Tobias Lambert, BerlinÜbersetzungen: Sebastian Henning, BerlinLektorat: Anna Schulte, Olga Burkert, BerlinLayout: Mathias Hohmann, BerlinDruck: Agit Druck, Berlin ISBN: 978-3-923020-56-0 Der Neue Extraktivismus Der Neue Extraktivismus Die aktuelle Debatt e über Rohstoff abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika Bergbau und Neo-Extraktivismus in Lateinamerika Maristella Svampa Rückgewinnung der Souveränität Bolivien, Venezuela und Ecuador drängen den Neoliberalismus zurück und bauen die staatliche Kontrolle über ihre Rohstoff e aus Wirtschaft und Sozialpolitik in Venezuela und Bolivien Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Luis Sandoval & Jake Johnston Der neue progressive Extraktivismus in Südamerika Eduardo Gudynas Soja-Expansion und Agrarstreik Anmerkungen zu den Vorkommnissen der Jahre 2008 und 2009 in Argentinien Norma Giarracca & Tomás Palmisano Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Marsch der TIPNIS-Indígenas Über den Zusammenhang zwischen den indigenen Protesten in Bolivien und den extraktivistischen Modellen Südamerikas Sarela Paz Hindernisse der Yasuní-ITT Eine Interpretation aus der Perspektive der politischen ÖkonomieAlberto Acosta Sieg der Marktlogik Das Yasuní-Projekt und die deutsche PolitikMiriam Lang Ressourcen für Europa Die Rohstoff strategien der EU und Deutschlands gehen auf Kosten des globalen SüdensTobias Lambert Post-Extraktivismus und Transitionen auf dem Weg zu Alternativen zu EntwicklungEduardo Gudynas Über die Autor_innen Über die Herausgeber_innen Über die Fotoautor_innen Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Die aktuelle Debatt e über Rohstoff abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika Seit der Eroberung basiert die Ökonomie Lateinamerikas auf der Ausbeutung weniger Rohstoff e, deren Nutzung im Lauf der Geschichte maßgeblich zum Wohlstand im globalen Norden beigetragen hat. Der Extraktivismus, eine auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoff en und Agrarland für den Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie, prägt die wirtschaft lichen und sozialen Strukturen der meisten Länder des Subkontinents bis heute wesentlich. Die Folgen sind überwiegend negativ: Extraktive Industrien wie Bergbau, Erdöl und Agrobusiness sind verantwortlich für massive Menschenrechtsverletzun-gen, weisen eine verheerende soziale und Umweltbilanz auf und geben wenig Impulse für die lokale Ökonomie. Rohstoff reiche Länder sind in der Regel wirtschaft lich abhängig von äußeren Faktoren wie Weltmarktpreisen und lei-den unter ungerechten Welthandelsstrukturen. Die Fixierung auf den Export einzelner Rohstoff e führt zudem dazu, dass andere Sektoren kaum ausgebaut werden und ein Großteil der benötigten Gebrauchsgüter, wie zum Beispiel Lebensmitt el, importiert werden müssen. Die Begrenztheit der meisten Roh-stoff e sowie die Mehrfachkrise des globalisierten Kapitalismus (Ernährungs-, Klima-, Energie- und Finanzkrise) machen eine Diskussion über Alternativen zu dem vom globalen Norden vorgelebten, auf fortwährendem Wachstum ba-sierenden Entwicklungsweg zwingend notwendig. In Lateinamerika hat die Krise des Neoliberalismus im vergangenen Jahr- zehnt die politischen Kräft everhältnisse verschoben. In den meisten Ländern des Kontinents kamen (Mitt e)-Linksregierungen, häufi g unterstützt von sozi-alen Bewegungen, durch Wahlen an die Macht. Trotz erheblicher Unterschie- Der Neue Extraktivismus de zwischen den einzelnen Regierungen, versuchen diese in zentralen Punkten mit dem neoliberalen Erbe zu brechen und die Rolle des Staates zu stärken. Diskursiv am weitesten links stehen Venezuela, Bolivien und Ecuador. Vene-zuela hat es sich zum Ziel gesetzt, einen „Sozialismus des 21.Jahrhunderts" aufzubauen, in Ecuador wird eine „Bürgerrevolution" propagiert, und Bolivien verfolgt das Ziel, einen plurinationalen und kommunitären Staat zu schaff en. Ein gesteigertes Selbstbewusstsein gegenüber den transnationalen Konzernen ist bei allen drei unverkennbar. Bestehende Verträge wurden neu verhandelt, um die staatlichen Einnahmen aus dem Öl- beziehungsweise Gasgeschäft deutlich zu erhöhen, den Unternehmen wurden höhere Abgaben auferlegt und das Geld für Sozialprogramme genutzt. Doch nicht nur in der Verteilungsfrage, sondern auch im Umgang mit Mensch und Natur kommen aus Lateinamerika interessante Impulse. Bolivi-en und Ecuador haben in ihren neuen Verfassungen als gesellschaft liches Ziel die Verwirklichung des „guten" oder „erfüllten Lebens" (buen vivir) formuliert. Dieses Konzept steht dem westlichen Entwicklungsbegriff kritisch gegenüber und basiert zum Teil auf indigenen Wertvorstellungen. In der Verfassung Ecu-adors sind sogar Rechte der Natur verankert.
Doch jenseits dieser neuen diskursiven Elemente besteht die ökonomische Fixierung auf den Export von Rohstoff en weiter, teilweise sogar in verstärk-tem Ausmaß. Daran regt sich Kritik von links. Der uruguayische Intellektuelle Eduardo Gudynas charakterisiert die neuen Rohstoff politiken der progressi-ven Regierungen als „Neo-Extraktivismus" und hat damit eine Debatt e über die Nachhaltigkeit des extraktiven Wirtschaft smodells ausgelöst, die in im-mer mehr Ländern Lateinamerikas aufgenommen wird. Das Neue am Neo-Extraktivismus ist dabei laut Gudynas in erster Linie die größere staatliche Kontrolle über die Einnahmen aus den extraktiven Industrien, die vermehrt für Sozialprojekte verwendet werden. Die Ausbeutung von Rohstoff en werde durch die breitere Verteilung der Gelder allerdings stärker legitimiert und Kri-tik daran politisch marginalisiert. Dieser „Neue Extraktivismus" habe jedoch nur kurzfristige Vorteile und sei weder ökologisch noch sozial dauerhaft trag-fähig. Anstatt an der klassischen linken Überzeugung festzuhalten, dass mög-lichst viele Einnahmen aus dem Rohstoff sektor abgeschöpft werden müssten, fordert Gudynas zum Nachdenken über Alternativen zum Extraktivismus auf. Tatsächlich gibt es in Lateinamerika bereits vereinzelt Beispiele konkreter Pro- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika jekte, die über den Extraktivismus hinausweisen. In Argentinien verabschie-dete der Kongress im Oktober 2010 ein Gesetz zum Schutz der Gletscher, das die Ausbeutung von Rohstoff en in festgelegten Gebieten untersagt und einen Rückschlag für die Lobbyarbeit großer Bergbaukonzerne darstellt. Costa Rica verbot im November 2010 als erstes Land in Lateinamerika alle neuen Projek-te des off enen Metall-Tagebaus. Der bekannteste Vorschlag, der in der Politik diskutiert wird, ist die Yasuní-ITT -Initiative in Ecuador. Er sieht vor, in einem Teil des amazonischen Regenwalds vorhandenes Erdöl im Boden zu belassen, sofern von internationaler Seite Kompensationen gezahlt werden.
Die Rosa Luxemburg Stift ung (RLS) und das Forschungs- und Dokumen- tationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) wollen mit der vorliegenden Publikation einen Beitrag dazu leisten, die Debatt e um den Neuen Extrakti-vismus in Europa bekannter zu machen. Nach einer Einführung in das Th von Maristella Svampa, gibt David Rojas-Kienzle in seinem Beitrag zunächst einen kurzen Überblick über die staatlichen Rohstoff politiken Boliviens, Ecu-adors und Venezuelas. Die durch die neue linke Verteilungspolitik erzielten Erfolge stellen Mark Weisbrot et al. am Beispiel Venezuelas und Boliviens im darauf folgenden Beitrag dar. Es folgt ein Text von Eduardo Gudynas über den progressiven Neo-Extraktivismus. Tomás Palmisano und Norma Giarracca zeigen anschließend anhand des Konfl ikts um eine höhere Besteuerung der Soja-Exporte in Argentinien auf, wie schwierig es bei den gegebenen Kräft e-verhältnissen sein kann, die staatlichen Einnahmen aus den extraktiven In-dustrien zu erhöhen. Die Kluft zwischen öko-sozialistischem Diskurs und neo-extraktivistischer Realpolitik beleuchtet Sarela Paz in ihrem Beitrag über den TIPNIS-Konfl ikt in Bolivien. Alberto Acosta stellt anschließend die Ya-suní-ITT -Initiative aus Ecuador vor, die als visionärer post-extraktivistischer Im vorliegenden Band soll darüber hinaus auch die Rolle Deutschlands und der EU betrachtet werden. Miriam Lang zeigt auf, wie die deutsche Bundesre-gierung die Yasuní-Initiative aktiv torpediert, indem sie bereits in Aussicht ge-stellte Gelder umwidmet, um den falschen Lösungsansatz der Karbonmärkte zu stärken. Die internationalen Rahmenbedingungen des Extraktivismus stellt Tobias Lambert anhand der Rohstoff strategien der EU und Deutschlands vor. Diese haben den bestmöglichen Zugang zu Rohstoff en zum Ziel, ohne die negativen Folgen für die rohstoff reichen Länder zu berücksichtigen. Es wird Der Neue Extraktivismus deutlich, dass ohne eine radikale Senkung des weltweiten Rohstoffk jegliche Versuche, zu einem post-extraktivistischen Modell überzugehen, be-schränkt sind. Im abschließenden Beitrag widmet sich Eduardo Gudynas der Frage, wie Übergänge zu einem Post-Extraktivismus unter den gegebenen Bedingungen aussehen könnten. Eine Erhöhung der staatlichen und sozialen Kontrolle über die extraktiven Industrien ist dafür laut Gudynas unabdingbar. Es gehe aber nicht darum, künft ig sämtliche Rohstoff förderung zu unterbin-den, diese jedoch deutlich einzuschränken. Gudynas‘ Überlegungen geben den Anstoß für viel weiter gehende Debat- ten. In diesem Sinne hat das Auslandsbüro für die Andenregion der RLS mit Sitz in Quito Anfang 2010 die regionale Arbeitsgruppe „Alternativen zur Ent-wicklung" ins Leben gerufen. Zahlreiche AutorInnen aus diesem Band, aber auch Politiker_innen aus den progressiven Regierungen und Vertreter_innen sozialer Organisationen, die teilweise auf lokaler Ebene bereits Alternativen implementieren, analysieren dort nicht nur die real existierenden Politiken von Bolivien, Ecuador und Venezuela, sondern arbeiten darüber hinaus an Vorschlägen, die einen Weg aus der Rohstoff -Falle aufweisen können. Der dis-kursive Horizont der Gruppe ist dabei die Erreichung eines erfüllten Lebens (buen vivir / vivir bien). Sie setzt dabei nicht einfach nachhaltige Entwicklung an die Stelle von herkömmlicher Entwicklung, sondern verwirft , wie der Name „Alternativen zur Entwicklung" schon andeutet, das Entwicklungskonzept an sich, als historischen Ausdruck einer diskursiven Neuordnung der Welt in „ent-wickelt" und „unterentwickelt", die nach dem 2. Weltkrieg ihren Anfang nahm. Ökonomische Diskurse, neugeschaff ene Disziplinen in Forschung und Lehre, entwicklungspolitische Institutionen und ihre Planungslogiken, Vorstellungen über industrielle Landwirtschaft aber auch darüber, was ein gelungenes Leben ist, verdichteten sich zu einem mächtigen Dispositiv, das letztlich bis heute das Gefälle zwischen ehemaligen Kolonien und Metropolen zementiert und den zerstörerischen Weg des globalen Nordens als Königsweg propagiert. Andere, autochthone Lebensweisen wurden hingegen systematisch als „rückschritt -lich" disqualifi ziert und von den entsprechenden Politiken marginalisiert. Insofern arbeitet die Gruppe auch an der Entkolonisierung von populären Vorstellungen über ein gelungenes Leben, indem sie beispielsweise die Stadt als alleinigen Ort des sozialen Erfolgs entmythifi ziert und in der Region noch bestehende Kontinuitäten zwischen ländlichen und urbanen Lebensweisen zu Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika verstärken sucht. Die Gruppe trifft sich zwei- bis dreimal im Jahr, um bestehen- de Alternativansätze kennenzulernen und zu diskutieren. Als erstes Arbeits-ergebnis erschien Ende 2011 in Quito das Buch „Más allá del desarrollo", das bisher nur in spanischer Sprache vorliegt.1 1 Das Buch kann als kostenloses pdf heruntergeladen werden unter: htt p://www.rosalux.org.ec/es/mediateca/documentos/281-mas-alla-del-desarrollo


Der Neue Extraktivismus


Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Bergbau und Neo-Extraktivismus in Lateinamerika Maristella Svampa Extraktivismus – mit diesem historisch und symbolisch stark aufgeladenen Be-griff lässt sich eine in Lateinamerika immer weiter voranschreitende Realität bezeichnen. Unter Extraktivismus ist jenes Akkumulationsmodell zu verste-hen, das auf einer übermäßigen Ausbeutung immer knapper werdender, meist nicht erneuerbarer, natürlicher Ressourcen beruht, sowie auf der Ausdehnung dieses Prozesses auch auf Territorien, die bislang als „unproduktiv" galten. Das Konzept beinhaltet also nicht nur klassische extraktive Tätigkeiten, wie Bergbau und Erdöl, sondern auch Forstwirtschaft , Agrobusiness und Agro-kraft stoff e, und sogar Infrastrukturprojekte, wie große Wasserkraft werke, die den Ausbeutungstätigkeiten dienen sollen. Eines der verbindenden Merkma-le dieser Aktivitäten ist nach Eduardo Gudynas die damit meist verbundene Tendenz zur Monoproduktion oder Monokultur. Geopolitisch gesehen ist der Extraktivismus, der versucht wird von Mexiko bis Argentinien durchzu-setzen, Ausdruck einer territorialen und globalen Arbeitsteilung zwischen den Ländern des Zentrums und denen der Peripherie, durch die die Staaten dieser Region zum Export von Rohstoff en und Verbrauchsgütern verurteilt sind. Es ist kein Zufall, dass – abseits des Diskurses von der Industrialisierung – die la-teinamerikanischen Ökonomien nicht nur eine stärkere Transnationalisierung und wirtschaft liche Konzentration aufweisen, sondern gleichfalls eine Ten-denz zu Reprimarisierung, Spezialisierung der Produktion und Verstärkung von Exportenklaven. Diese Prozesse wurden seinerzeit durch den Struktura-lismus und verschiedene Strömungen der Linken vehement kritisiert.
In der neuen Situation globaler Verfl echtungen, die im Namen „kompara- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika tiver Kostenvorteile" verteidigt werden, hat in Lateinamerika der Erzabbau in Tagebauen die meisten Kontroversen ausgelöst. Er ist zum Sinnbild eines plündernden Extraktivismus geworden, der zahlreiche direkte negative Folgen für das Leben der lokalen Bevölkerung hat: • In Tagebauen werden gift ige chemische Substanzen verwendet, die in lokale Wasserkreisläufe gelangen; die Abbaustätt en haben außerdem einen enormen Wasser- und Energieverbrauch und machen anderen wirtschaft lichen Aktivi- täten (zum Beispiel Landwirtschaft , Viehzucht, Tourismus) Land- und Wasserressourcen streitig.
• Die normativ-juristische Grundlage für den Tagebau wurde in den 1990er Jahren geschaff en und gesteht dem Privatsektor enorme Subventionen und Profi te zu, durch die eine außerordentliche Rentabilität gewährleistet ist. Kontrollen (durch nationale oder Provinzregierungen) sind kaum oder gar nicht vorhanden.
• Es handelt sich um Bergbaugroßprojekte, die die Lebensstruktur der Bevöl- kerung vor Ort zerstören und verändern. Bestehende regionale Ökonomien, in die kleine und mitt lere Ortschaft en eingebunden sind, werden verdrängt.
• Diese Form des Bergbaus ist transnational und beinhaltet Merkmale der Enklavenökonomie: Ressourcen werden extraterritorialen Akteuren übereig- net, ohne dabei nennenswerte endogene Wertschöpfungskett en zu gene- rieren, wodurch eine Abhängigkeit der Bevölkerung von Großunternehmen entsteht (auf dem Wege der sogenannten Corporate Social Responsibility).
• Es entstehen Gesundheitsbelastungen für die betroff ene Bevölkerung sowie zahlreiche Umweltschäden, was in mehreren Ländern und Regionen ein- deutig nachgewiesen ist.
• Die Projekte werden ohne die Zustimmung der lokalen Bevölkerung durch- geführt, was soziale Konfl ikte aller Art, gesellschaft liche Spaltungen und die Kriminalisierung von Widerstandsbewegungen zur Folge hat, wodurch vermehrt Menschenrechtsverletzungen begangen werden.
Der Neue Extraktivismus Schauplätze und Debatt en
Das erste Land Lateinamerikas, in dem die „neue" Form des Bergbaus Ein-
zug erhielt, war Peru, wo ihre Einführung und Darstellung als „Entwicklungs-
motor" durch die bestehende Bergbautradition möglich war. Heute ist Peru
– trotz hoher Wachstumsraten (8,6 Prozent) aufgrund des Exports von Bo-
denschätzen – nach wie vor eines der ärmsten und sozial ungleichsten Län-
der der Region; hinzu kommt noch eine starke repressive Komponente. Das
transnationale Modell des Erz-Tagebaus lässt sich klar dem sogenannten plün-
dernden Extraktivismus zuordnen; es bringt erhebliche soziale und ökologi-
sche Auswirkungen mit sich und wurde von den verschiedenen aufeinander
folgenden neoliberalen Regierungen, von Alberto Fujimori bis zu Alan García,
immer wieder bestätigt.
Die paradoxesten Situationen fi nden sich jedoch in Bolivien und Ecuador, wo die derzeitigen Spannungen von der mangelnden Übereinstimmung zwi-schen emanzipatorischen Diskursen und tatsächlichen staatlichen Maßnah-men zeugen. So hält Evo Morales nach außen einen energischen Diskurs zur Verteidigung der Mutt er Erde aufrecht, der allerdings recht wenig mit seiner eindeutig extraktivistischen Innenpolitik zu tun hat.
So provozierte die etatistische Linie während der ersten Amtszeit von Evo Morales (2006 bis 2010) Konfl ikte mit den Großkonzernen, da die Regierung durch Verstaatlichungen beabsichtigte, dem Staat die Kontrolle über die Er-träge aus dem Bergbausektor zu geben. Doch seit Beginn der neuen Amtszeit, befreit von dem Druck der regionalen Oligarchien, manifestiert sich in der Politik der bolivianischen Regierung immer mehr die Stärkung einer neuen etatistischen, rein ökonomistischen Hegemonie, durch die das Streben nach Schaff ung eines plurinationalen Staates in Frage gestellt wird. Dies zeigte sich in der Verabschiedung mehrerer strategischer Gesetze, durch die die Entwick-lung ambitionierter extraktivistischer Projekte erleichtert werden soll, dar-unter Bergbaukonzessionen in indigenen Territorien und Großprojekte zur Energiegewinnung in der Amazonasregion.
Vor diesem Hintergrund haben soziale Organisationen der indigenen Bevöl- kerung, wie die Coordinadora Indígena del Oriente Boliviano (CIDOB) oder die Confederación Nacional de Ayllus y Markas del Qollasuyo (CONAMAQ), begonnen, ihr Recht auf vorherige Konsultation, das in der bolivianischen Ver-fassung verankert ist, sowie den Respekt vor ihren organisatorischen Struk- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika turen einzufordern. Eine echte Debatt e über den Extraktivismus und seine Folgen, vor allem die ökologischen, wird jedoch mit Verweis auf komparative Kostenvorteile (insbesondere durch die Möglichkeit der Lithium-Ausbeu-tung) sowie durch den, mit dem Arbeitsmarkt verbundenen, wirkmächtigen Mythos vom Bergbau verhindert. Ecuador ist das Land Lateinamerikas, in dem die Diskussion um Umwelt- fragen als Folge des off enen Tagebaus ihren Anfang nahm. In der neuen Ver-fassung von 2008 wurde das Konzept des „guten Lebens" (buen vivir) als Alternative zur konventionellen Entwicklung proklamiert. Das Nationale Mi-nisterium für Planung und Entwicklung (SENPLADES) erarbeitete für dessen Durchsetzung den „Plan del Buen Vivir 2009-2013". In diesem wird neben der „Rückkehr des Staates" ein verändertes Akkumulationsmodell vorgeschlagen, das über den Export von Primärrohstoff en hinausgeht und einen „Fahrplan" in Richtung einer endogenen, biozentrischen Entwicklung aufstellt, die auf der Nutzung von Biodiversität, Wissen und Tourismus beruht. Gleichzeitig schreibt die Verfassung auch die Rechte der Natur fest, der der Status eines Subjekts zugewiesen wird, mit dem verbrieft en Recht, wiederhergestellt und verteidigt zu werden.
Trotz dieser Neuerungen verfügt der neo-strukturalistische Extraktivismus mit Präsident Rafael Correa über einen seiner hartnäckigsten Verteidiger. So erleichtert das neue Bergbaugesetz von 2008 das Vordringen in geschützte Gebiete und indigene Gemeinschaft en, ohne auf die starken gesellschaft lichen Widerstände Rücksicht zu nehmen. Besonders fällt dabei die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen unter dem Straft atbestand „Sabotage und Terroris-mus" auf, wovon zurzeit etwa 180 Personen betroff en sind, maßgeblich wegen Widerstandes gegen Bergbaugroßprojekte. Die abfälligen Äußerungen von Rafael Correa über den „infantilen Öko-Aktivismus" behinderten den Dialog weiterhin; die Konfrontation zwischen der Regierung und den Indigenen- so-wie den Umweltorganisationen tritt seitdem immer off ener zu Tage. Eine der zentralen Fragen in den genannten Ländern ist die Reichweite des Rechts der indigenen Bevölkerung auf vorherige Konsultation und der ent-sprechenden Beteiligungsverfahren, um dieses Recht zu gewährleisten. Das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) schreibt dafür Freiwilligkeit, vorherige Konsultation und volle Kenntnis der Sachlage als Voraussetzungen vor. In Bolivien ist einer der Streitpunkte zwischen der Der Neue Extraktivismus Regierung und den sozialen Bewegungen, ob die vorherigen Konsultationen bindend sind oder nicht. In Ecuador trat das ILO-Übereinkommen 1998 mit der Verfassung zwar in Kraft , in der Praxis wird es jedoch nicht umgesetzt und läuft Gefahr, durch andere Bestimmungen eingeschränkt zu werden, etwa durch die „Befragung vor Gesetzwerdung" (consulta pre-legislativa). Selbst in Peru gab es eine Debatt e über die Einhaltung von dem ILO-Über- einkommen Nr. 169, nachdem sich Ex-Präsident Alan García 2009 nach der Repression in Bagua gezwungen sah, sich politisch gegenüber den Forderun-gen der Amazonas-Gemeinden zu öff nen. Im Mai 2010 stimmte das perua-nische Parlament dann für ein Konsultationsgesetz in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, das von García jedoch kritisiert und an das Parlament zu-rückverwiesen wurde. Das Präsidentenveto bestätigte erneut das Fortschreiten des extraktiven Enteignungsmodells, das durch die fortgesetzte Konzessionie-rung indigener Territorien für extraktive Maßnahmen (Erdöl, Bergbau, Forst-wirtschaft ) und infrastrukturelle Großprojekte (Wasserkraft werke, Straßen) garantiert wird.
Der Bergbausektor in Argentinien weist große Ähnlichkeiten mit dem plün- dernden Modell, das in Peru vorherrscht, auf. In beiden Ländern hat sich ein Enteignungsprozess durchgesetzt; es dominieren die ökonomische Logik multinationaler Konzerne und privater Interessen, die durch die staatlichen Maßnahmen auf nationaler und auf Provinzebene begünstigt und vertieft werden. Dennoch gibt es einige Unterschiede, etwa gibt es in Argentinien keine Tradition des Großbergbaus, und somit auch keinen Mythos, den man sich bei der Einführung dieses Modells zunutze machen könnte. Zum an-deren manifestierten sich hier die gesellschaft lichen Widerstände nicht in Volksbefragungen (die seit der erfolgreichen Abstimmung in der argenti-nischen Stadt Esquel von 2003 systematisch verboten wurden), sondern in Gesetzen zum Verbot derartiger Großprojekte sowie, wenn indigene Gemein-schaft en betroff en sind, der Anwendung des ILO-Übereinkommens 169, wie etwa in Loncopué (Provinz Neuquén) und Tilcara (Provinz Jujuy). Heute exis-tieren in sieben argentinischen Provinzen Gesetze zum Verbot dieser Form des Bergbaus und der dort verwendeten Gift stoff e, wenngleich derlei institutionelle Fortschritt e fragil sind: Sowohl die Unternehmen als auch die einzelnen Regie-rungen in den Provinzen versuchen, jede Gesetzeslücke auszunutzen, stellen auf juristischem Wege die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in Frage (wie im Fall Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika der Provinzen Mendoza und Córdoba), oder warten neue „politische Gegeben-heiten" ab (wie nach der Wahl von Oktober 2011), um dann Provinzgesetzge-bungen aufzuheben oder angestammte Rechte der indigenen Bevölkerung zu missachten, wenn diese angestrebten Großinvestitionen im Wege stehen.
Das Auff allendste in Argentinien ist jedoch, dass hier der Mythos der Ko- existenz von Enteignung und Fortschritt sdenken noch besser funktioniert als in anderen Ländern. Der argentinischen Regierung gelingt es, in einer Situation der Polarisierung ohne Zwischentöne, ihre eigene Meinung und Interessen in einen gepanzerten Diskurs über die staatliche Politik der Rohstoff ausbeutung, vor allem des Bergbausektors, zu verpacken. Dadurch entsteht in Argentini-en eine recht paradoxe Situation: Die Beschwörung des National-Populären einerseits, geht einher mit der Konsolidierung eines neokolonialen Modells andererseits.
Zwei Vorkommnisse trugen zu einer gewissen Öff nung und Verbreitung der Bergbauproblematik auf nationaler Ebene bei. Bei dem einen ging es um Zah-lungen des Bergbaukonzerns Minera Alumbrera an staatliche Universitäten, die der Bürgerrechtler Adolfo Pérez Esquivel im Jahr 2009 durch einen Brief an die Hochschulrektoren öff entlich machte. Dennoch nahm der Großteil der staatlichen Universitäten die Zahlungen an, mit Verweis auf deren „Legalität" und ohne sich einer ethisch-politischen Debatt e darüber zu stellen. Das andere Ereignis war das Veto der Präsidentin gegen das Gletscherschutzgesetz 2008, dem eine Debatt e im Kongress folgte. Als Ergebnis dieser Debatt e wurde im September 2010 ein noch schärferes Gesetz („Bonasso-Filmus-Gesetz") ver-abschiedet, dem nur sieben Senatoren der Regierung zustimmten. Durch das Gesetz wird der Schutz von Süßwasserquellen und -reservoirs festgeschrieben und jedwede extraktive Tätigkeit in Gletscher- und Periglazialgebieten unter-sagt. Diese Gebiete machen etwa ein Prozent der Fläche Argentiniens aus und sind bereits von Bergbaugroßprojekten betroff en. Gegen das Gesetz wurde jedoch umgehend geklagt (unter anderem in der Provinz San Juan durch den Konzern Barrick Gold), und die Lücken in der kürzlich erlassenen Ausfüh-rungsverordnung dazu zeigen aufs Neue den geringen Willen der Regierung und der verschiedenen staatlichen Instanzen, das Gesetz umzusetzen, wodurch das weitere Fortschreiten der Bergbauprojekte ermöglicht wird.
Der Neue Extraktivismus Die Transition denken
Jenseits der Unterschiede und Widersprüche sind die verschiedenen natio-
nalen Schauplätze durch Off enheit und Dynamik gekennzeichnet. So verbot
beispielsweise Costa Rica Ende 2010 als erstes Land Lateinamerikas den
Abbau von Rohstoff en in Tagebauen. Panama hob sein Bergbaugesetz auf.
Gleichzeitig ist die Region von unzähligen lokalen, sehr asymmetrischen
Kämpfen überzogen, die vergegenwärtigen, dass der herrschende Extrak-
tivismus kein Schicksal ist. Es handelt sich vielmehr um eine politische und
zivilisatorische Option, die von den verschiedenen Regierungen – ob nun
neoliberal oder fortschritt lich – übernommen wurde, durch die Territorien
und Ökonomien in negativer Weise umstrukturiert werden und gleichzei-
tig eine neue Abhängigkeit entsteht. In nicht wenigen Fällen gelang es durch
die sozialen Kämpfe, auf lokaler Ebene das Fortschreiten von Bergbaugroß-
projekten zu stoppen, wie vor kurzem im Tambo-Tal in der peruanischen Pro-
vinz Islay. Nichtsdestotrotz gleicht diese Aufgabe gelegentlich einer nicht en-
den wollenden Sisyphusarbeit, etwa in der Intag-Region im ecuadorianischen
Kanton Cotacachi, wo die Bevölkerung die Bergbaukonzerne gleich zweimal
hinauswerfen musste.
Ein immer wiederkehrendes Argument der Verteidiger_innen der Berg- baugroßprojekte ist, dass die Kritiker_innen kein alternatives Entwicklungspro-jekt anzubieten hätt en. Im Gegenteil sind es jedoch, wie Norma Giarracca und Miguel Teubal nachweisen, die Regierungen selbst, die die lokalen Chancen und produktiven Möglichkeiten verschleiern, indem sie durch staatliche Maßnah-men die „Krise" verschärfen und dem Bergbau den Weg ebnen. Hinzu kommen zweifelhaft e Gutachten über die Umweltverträglichkeit der Großprojekte, in de-nen die Folgen des Bergbaus für die lokalen Ökonomien kleingeredet werden. Die Auswirkungen des extraktivistischen Modells für Menschen und Umwelt sind außerdem so gravierend, dass umfassendere Lösungsansätze erforderlich sind. In verschiedenen Ländern Lateinamerikas wurde daher be-gonnen, über Alternativen zum Extraktivismus und über die Notwendigkeit von Übergangsszenarien zu diskutieren. Angestoßen wurde diese Diskussion in Ecuador, der Durchbruch gelang jedoch kürzlich in Peru, wo Organisa-tionen des Peruanischen Netzwerks für eine Globalisierung in Gerechtigkeit (RedGE) eine weitreichende Erklärung gegenüber den wichtigsten Parteien abgaben. In dieser wird ein Szenario des Übergangs zu einem Post-Extraktivis- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika mus entworfen, mithilfe von Maßnahmen, die auf eine nachhaltige Nutzung von Land, die Stärkung umweltpolitischer Instrumente, eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Anerkennung und Durchsetzung des Rechts auf vorherige Konsultation der indigenen Gemeinden sowie andere wichtige Punkte abzielen. Vielleicht fehlt es der Erklärung an diskursiver Ra-dikalität, wie sie etwa in Bolivien und Ecuador anzutreff en ist, da in ihr nicht vom „guten Leben" oder „plurinationalen Staat" gesprochen wird – zumindest aber drückt sie die Notwendigkeit aus, über weniger auf Plünderung beruhen-de Szenarien nachzudenken. In Ländern wie Argentinien wird diese Diskussi-on hingegen noch gar nicht geführt, obwohl diese aus politischer Perspektive nichtsdestotrotz als progressiv eingestuft werden.
Einen der interessantesten Ansätze hat das Lateinamerikanische Zentrum für Sozialökologie (CLAES) vorgelegt, das von dem Uruguayer Eduardo Gudynas geleitet wird (siehe die Beiträge von Gudynas in diesem Band). In Gudynas Vorschlag wird ausgeführt, dass die Transition hin zu einem Post-Ex-traktivismus eines Bündels staatlicher Maßnahmen bedarf, mit dessen Hilfe die Verbindung zwischen ökologischer und sozialer Frage auf neue Weise gedacht werden kann. Gleichzeitig geht er davon aus, dass ein „Bündel von Alternati-ven" innerhalb des konventionellen Entwicklungsmodells dem Extraktivismus nicht genug entgegenzusetzen hätt e, was es notwendig mache, „Alternativen zu Entwicklung" zu durchdenken und auszuarbeiten. Letztendlich handelt es sich hierbei um einen Vorschlag, der sich in den regionalen Kontext und einen strategischen Horizont des Wandels stellt, innerhalb dessen, was die indigenen Gruppen als „gutes Leben" bezeichnet haben.
Die Debatt e über den Übergang hin zum Post-Extraktivismus wurde gerade erst eröff net, doch es besteht kein Zweifel daran, dass dies ein großes Th ist, dem sich unsere Gesellschaft en stellen müssen – auch wenn das dem herr-schenden Fortschritt smodell missfällt. Anmerkung
Der Beitrag erschien im Juli 2011 im argentinischen Internet-Portal Darío
Vive (htt p://www.dariovive.org/?p=1500) und wurde für das vorliegende
Buch aus dem Spanischen übersetzt.


Der Neue Extraktivismus


Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Rückgewinnung der Souveränität Bolivien, Venezuela und Ecuador drängen den Neoliberalismus zurück und bauen die staatliche Kontrolle über ihre Rohstoff e aus Die Regierungen Boliviens, Venezuelas und Ecuadors gelten als Beispiel für eine neue anti-neoliberale Politik in Lateinamerika. Ob der Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela, der plurinationale Staat in Bolivien oder die Bürgerrevolution in Ecuador: Alle drei Regierungen sind angetreten, um dem Neoliberalismus der 1990er Jahre ein Ende zu bereiten und eine gerechtere und sozialere Wirtschaft spolitik umzusetzen. Und alle drei Länder verfügen über teils beachtliche Rohstoff vorkommen, die bei der Umsetzung dieser neu-en Politik eine zentrale Rolle spielen. In diesem Zusammenhang ist bei der Rohstoff politik in Wissenschaft und Medien meist von Nationalisierungen oder Verstaatlichungen die Rede. Hierbei wird suggeriert, der Staat überneh-me die volle Kontrolle über die jeweiligen Rohstoff e und die Privatwirtschaft bleibe außen vor. Der Blick ins Detail zeigt jedoch, dass sich die Prozesse und Politiken, die unter den Schlagwörtern Verstaatlichung und Nationalisierung subsumiert werden, wesentlich komplexer sind.
Seit den 1980er Jahren war der Neoliberalismus in den meisten lateinameri- kanischen Ländern die dominierende Staatsideologie. Die infolge von Staats-schulden knappen Kassen sollten mit Hilfe von Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) wieder aufgefüllt werden. Diese wurden allerdings nur gewährt, sofern Strukturanpassungsprogramme durchgeführt wurden. Diese bedeuteten im Sinne des „Washington Consensus" die praktische Durchset-zung neoliberaler Th eorie in die Praxis, was in der Folge Privatisierungen auf allen Ebenen bedeutete. 1 Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Bolivien: Erfolgreiche Neuverhandlung der Gasverträge
Bolivien war über lange Zeit eines der Experimentierfelder für diese neolibera-
len Politikstile. Eingeläutet wurde diese Phase durch eine schwere Wirtschaft s-
krise 1982, in deren Folge zur Konsolidierung des Staatshaushaltes drastische
Kürzungsmaßnahmen durchgeführt und Importbeschränkungen aufgehoben
wurden. Das Ergebnis war eine noch weitergehende Verelendung der unteren
Bevölkerungsschichten. Eine weitere Maßnahme zur Entschuldung war das
Schröpfen des staatlichen Ölkonzerns YPFB, der 65 Prozent seiner Einnah-
men an den Staat abführen musste und ein Investitionsverbot aufgedrückt
bekam. In der sehr kapitalintensiven Petroindustrie bedeutete dies einen dras-
tischen Produktivitätsrückgang. 1993 kam mit Gonzalo Sánchez de Lozada
ein willfähriger Erfüllungsgehilfe neoliberaler Praktiken ins Präsidentenamt,
der die Privatisierung und Zerschlagung des Monopolisten YPFB, unter ande-
rem mit der geringen Produktivität begründet, in drei kleinere Unternehmen
in die Wege leitete und die neoliberale Umstrukturierung des bolivianischen
Öl- und Gassektors vorantrieb (Fritz 2006: 7ff .).
Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Gesetz 1689 über die Kohlenwas- serstoff e, das die Besitzverhältnisse an den fossilen Energieträgern dahinge-hend veränderte, dass diese lediglich staatliches Eigentum waren, solange sie sich unter der Erde befanden. Dies stand im Widerspruch zur damals gültigen Verfassung, nach der die Energieträger unveräußerliches Eigentum des bolivia-nischen Staates waren (ebd.: 11).
Entgegen der Erwartungen der liberalen Wirtschaft stheorien führte die Li- beralisierung der Erdöl- und Erdgasförderung nicht zu mehr Wett bewerb, son-dern zu einem Oligopol der drei Konzerne Petrobras, Repsol YPF und Total, die bei der Exploration, Förderung, dem Vertrieb und Export von Erdöl und -gas fast den ganzen Markt unter sich auft eilten.
Gegen Ende der 1990er Jahre regte sich Widerstand gegen die vorgenom- menen Privatisierungen. Mit dem „Wasserkrieg", der als Aufb ruch sozialer Bewegungen gegen die Jahrzehnte währende autoritäre Herrschaft gilt und bei dem in wochenlangen Protesten am Ende eine Privatisierung des Wassers 1 Neoliberalismus bezeichnet hierbei eine orthodoxe, einseitig an Kapitalinteressenorientierte Politik, nicht die politischen Th eorien, die unter dem Begriff Neolibera- lismus gesammelt werden ( Ptak 2007: 13-86).
Der Neue Extraktivismus (nicht nur der Wasserversorgung) rückgängig gemacht wurde, begannen in Bolivien Massenmobilisierungen gegen die neoliberale Regierungspolitik. Im sogenannten Gaskrieg kam es schließlich zu massiven Protesten gegen das Vorhaben Flüssiggas über einen Hafen in Chile in die USA zu verkaufen, wo-bei die Konditionen zum enormen Nachteil von Bolivien ausgefallen wären. Besondere Bedeutung hatt e hierbei auch der Verdacht, dass das Gas nach Chi-le verkauft werden sollte, was wegen der schwierigen Beziehungen zwischen Bolivien und Chile vielen Bolivianer_innen als Aff ront galt2 (Perreault 2010: 695).
Ergebnis dieser Auseinandersetzung war am 17. Oktober 2003 der Rücktritt des seit 2002 erneut amtierenden Präsidenten Sánchez de Lozada. Anschlie-ßend ließ Vizepräsident Carlos Mesa zur Beschwichtigung der Bevölkerung ein Referendum durchführen, in dem sich die Mehrheit der Bolivianer_innen für eine Verstaatlichung der Kohlenwasserstoff vorräte, eine Neugründung von YPFB und eine Erhöhung der Steuern für transnationale Unternehmen aussprach. Da Carlos Mesa weder gewillt noch fähig war, diese Forderungen umzusetzen, trat er nach erneuten Protesten im Jahr 2005 zurück. In der Folge wurde im Januar 2006 mit Evo Morales der erste indigene Präsident Boliviens vereidigt. Im Mai desselben Jahres verabschiedete seine Regierung das „Hel-den des Chaco" genannte Dekret, mit dem laut gängiger Darstellung die Bo-denschätze Boliviens wieder verstaatlicht wurden (Fritz 2006: 31).
Eine Verstaatlichung im eigentlichen Sinne fand jedoch nicht statt . Zwar wurde formal das Eigentum der Kohlenwasserstoff e an den Staat übertragen, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Messung der Fördermenge vorgenommen wird. Und selbst dieser Besitz ist lediglich formal, da immer noch Privatunternehmen die Förderung vornehmen. Das staatliche Unter-nehmen YPFB, das neu gegründet bzw. aus den drei einzelnen Unternehmen wieder fusioniert wurde, steht wegen jahrelang ausbleibender Investitionen 2 Die Beziehungen zwischen Bolivien und Chile sind wegen der Salpeterkriege (1879bis 1883), während denen Chile den bolivianischen Küstenstreifen besetzte, noch immer belastet. Erdgaslieferungen an Chile werden, ohne Zugeständnisse Chiles im Bezug auf den Meereszugang Boliviens, von vielen Bolivianer_innen als Verletzung nationaler Interessen gesehen. Deswegen ist in den Gaslieferverträgen zwischen Bolivien und Argentinien auch explizit ausgeschlossen, dass dieses Gas nach Chile weitergeleitet wird.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika vor massiven Problemen, da es mit der privaten Konkurrenz weder im Bezug auf die Produktivität, noch beim Wett bewerb um Fachkräft e mithalten kann3 (Kaup 2010: 132).
Der größte Erfolg der Regierung Morales dürft e die Neuverhandlung der Verträge mit den Gas- und Erdöl fördernden Unternehmen sein, bei denen vor allem die Preise des nach Brasilien und Argentinien exportierten Gases stark erhöht wurden. Vor allem aber wurde die Abgabenlast für die Unterneh-men erhöht, die bei größeren Gasfeldern bei insgesamt 82 Prozent liegt (ebd.: 129).
Ecuador: Neue Rohstoff politik mit visionären Vorschlägen
Genau wie in Bolivien setzte auch in Ecuador mit der durch den Verfall der
Erdölpreise ausgelösten Wirtschaft skrise 1982 eine neoliberale Wende in der
nationalen Politik ein. Auch in Ecuador wurde die ganze Bandbreite neolibe-
raler Strukturanpassungsprogramme – von Sozialkürzungen bis zu Privati-
sierungen – angewandt (Merino 2011: 7). Diese Politik wurde auch in den
1990er Jahren weiter fortgeführt und auf den Erdölsektor ausgeweitet. Schon
1989 wurde der staatliche ecuadorianische Erdölkonzern CEPE in „Petro-
ecuador", ein Konsortium aus verbundenen, aber voneinander unabhängigen
Firmen, umgewandelt. Im Jahr 1992 lancierte der damalige Präsident Sixto
Durán Ballén ein Programm der „apertura petrolera" (Öff nung der Ölindustrie
für private Investoren), das Steuer- und Zollsenkungen sowie Subventionen
für Erdölförderung beinhaltete und scharfe Kritik der Gewerkschaft en hervor-
rief (Perreault 2010: 693).
Besondere Bedeutung in der neoliberalen Politik der 1990er hatt en die fortgesetzten Versuche der ecuadorianischen Regierungen, die Hauptpipe-line SOTE, die die Ölfelder im ecuadorianischen Amazonasgebiet mit dem pazifi schen Ozean verbindet, zu privatisieren. Die traditionell starke und vor allem kritische Gewerkschaft sbewegung innerhalb von Petroecuador leistete dagegen sehr starken Widerstand, der von der Bevölkerung mehrheitlich un-terstützt wurde (ebd.).
Dies bedeutete allerdings noch kein Ende neoliberaler Politiken, die während 3 Die vorher privatisierten Unternehmen wurden allerdings nicht enteignet, sondernwie bei einer feindlichen Übernahme zurückgekauft .
Der Neue Extraktivismus der Amtszeit von Lucio Gutiérrez (2003 bis 2005) einen erneuten Höhepunkt erlebten. Dieser hatt e kurz nach seiner Wahl mit dem IWF ein Abkommen zur Privatisierung einiger von Petroecuadors Ölfelder unterzeichnet und gleich-zeitig die Privatisierung der vier profi tabelsten Ölfelder eingeleitet. Auch diese Maßnahmen lösten heft ige Proteste aus, die jedoch nicht nur von den Gewerk-schaft en, sondern auch von sozialen Bewegungen – z.B. Student_innen, Indi-genen oder Lehrer_innen – getragen wurden, die 2005 Gutiérrez aus dem Amt vertrieben (ebd.).
Nach zwei von politischer Instabilität gekennzeichneten Jahren wurde 2007 mit Rafael Correa ein dezidiert anti-neoliberaler Präsident gewählt, der vor al-lem durch die Unterstützung sozialer Bewegungen an die Macht kam (Mink-ner-Bünjer 2007: 2). Wie auch in Bolivien nimmt die Rohstoff politik eine wichtige Rolle innerhalb des Programms der Regierung Correa ein. Besondere Aufmerksamkeit erlangte hierbei das Projekt „Yasuní-ITT ", bei dem gegen eine Zahlung von Industrienationen ein in einem Naturschutzgebiet liegendes Öl-feld nicht ausgebeutet und für unantastbar erklärt werden soll (Merino 2011: 8; siehe auch Beiträge von Acosta und Lang in diesem Band).
Jedoch spielt Erdöl eine sehr große Rolle für den ecuadorianischen Staats- haushalt. Auch hier ist der zentrale Punkt der neuen post-neoliberalen Politik eine Neuverhandlung der Verträge mit den Öl fördernden Unternehmen, die ab nun als Dienstleister arbeiten sollen und vom Staat mit einem festen Be-trag pro gefördertem Ölfass entlohnt werden sollen. Dadurch sichert sich der ecuadorianische Staat Mehreinnahmen durch Preisschwankungen am Markt. Gleichzeitig wird das staatliche Unternehmen Petroecuador durch vermehr-te Investitionen und den Aufk auf – nicht die Enteignung – von Ölfeldern ge-stärkt. Verstaatlicht im eigentlichen Sinne wurde nicht (Mähler 2011: 3).
Venezuela: Staatliche Kontrolle über Erdöleinnahmen
Die Situation in Venezuela ist in Grundzügen ähnlich wie in Bolivien und
Ecuador. Der lange Zeit größte Erdölexporteur der Welt geriet nach einer als
„goldenes Jahrzehnt" bezeichneten Phase mit dem Verfall der Preise für Erdöl
ab 1982 in eine Wirtschaft s- und Schuldenkrise, deren Überwindung wie in
den beiden anderen Ländern durch neoliberale Maßnahmen erfolgen sollte.
Diese Maßnahmen führten genau wie in Bolivien und Ecuador auch zu einer
Verarmung der Bevölkerung4, die sich ab 1987 in zunehmend gewaltt ätigen
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Revolten niederschlug (Azzellini 2007: 20ff .). Der größte Aufstand war der sogenannte Caracazo im Februar 1989, bei dem – ausgelöst durch gestiegene Fahrpreise – in der Hauptstadt Caracas und anderen Städten massive Protes-te und Plünderungen durch die verarmte Bevölkerungsmehrheit statt fanden. Die brutale Repression forderte je nach Schätzung zwischen 1.000 und 3.000 Menschenleben auf Seiten der Protestierenden (Kühn 2007: 128ff ). Im Jahr 1992 putschten linke Militärs unter der Federführung des heutigen Präsiden-ten Hugo Chávez gegen den spätestens seit dem Caracazo völlig delegitimier-ten Präsidenten Carlos Andrés Pérez. Chávez legte durch den Putsch und eine souveräne Fernsehansprache nach dessen Niederschlagung den Grundstein für seinen Wahlerfolg 1998, den er mit anti-neoliberalen Positionen erzielte (Azzellini 2007: 21).
Die Ressourcenpolitik in Venezuela ist eng mit der Geschichte des 1976 ge- schaff enen staatlichen Erdölunternehmens PDVSA verbunden. Hierbei wurde der vormals private Besitz an eben dieses Unternehmen übertragen, ohne al-lerdings das Management oder die Unternehmenskultur zu verändern. PDVSA wurde weiterhin wie ein Privatunternehmen, mit dem Ziel der Profi tmaximie-rung geführt, was besonders Mitt e der 1980er Jahre deutlich wurde: Als Reakti-on auf die Versuche seitens der venezolanischen Regierung, den Staatsschulden mit Hilfe der Gewinne von PDVSA beizukommen, internationalisierte sich das Unternehmen, um die Abgaben zu verringern. Als in den 1990er Jahren auslän-dische Investitionen im Erdölsektor ermöglicht wurden, verlegte sich PDVSA darauf, weniger profi table Ölfelder von Privatunternehmen ausbeuten zu lassen und das Öl von diesen zu kaufen. Dies führte teilweise zu der skurrilen Situati-on, dass PDVSA Verluste mit diesen „Outsourcing-Geschäft en" machte, da die Privatunternehmen für die Dienstleistung höhere Preise für dieses Öl verlang-ten als es auf dem Weltmarkt wert war (Wilpert 2007: 89 ff .).
Eines der zentralen Anliegen von Chávez war es, PDVSA wieder unter staat- liche Kontrolle zu bringen. Dies gestaltete sich mehr als problematisch, wie der Putschversuch im April 2002 eindrucksvoll zeigte, als die Opposition den Austausch der PDVSA-Führung zum Anlass nahm, militärisch gegen die Re-gierung von Chávez vorzugehen (Azzellini 2007: 36).
4 Ende der 1990er Jahre lebten ca. 50 Prozent der venezolanischen Bevölkerung unterder Armutsgrenze (Mähler 2011: 4).
Der Neue Extraktivismus Die Wende kam erst, nachdem von Dezember 2002 bis Februar 2003 ein vom Management durchgeführter Unternehmerstreik und Sabotageaktionen Chávez die Legitimation gaben, 18.000 Ingenieur_innen, Manager_innen und andere Angestellte zu entlassen und durch loyale Angestellte zu ersetzen (Wil-pert 2007: 95).
Eine weitere Maßnahme zur Stärkung der Rolle des Staates im Erdölsektor war eine Steuerreform im Jahr 2001, mit der die Lizenzgebühren für die Erdöl-föderung von 16,6 auf 30 Prozent erhöht wurden, womit sich die Abgabenlast auf rund 60 Prozent erhöhte (Wilpert 2007: 95 ff .). Der wichtigste Schritt war allerdings, dass seit 2007 alle in Venezuela operierenden Firmen, die Erdöl för-dern, Joint Ventures mit PDVSA eingehen müssen, bei denen der Anteil des staatlichen Konzerns mindestens 60 Prozent betragen muss (Mähler 2011: 3). Die genauen Modalitäten der Joint Ventures wurden einzeln mit den Unterneh-men verhandelt, von denen sich lediglich ExxonMobile verweigerte, dessen ehe-malige Ölfelder sich heute komplett in der Hand von PDVSA befi nden.5 Keine Verstaatlichungen
Die von den Regierungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador vorgenomme-
nen Maßnahmen sind im eigentlichen Sinne keine Verstaatlichungen, sondern
vielmehr eine Rückgewinnung von Souveränität über die in den jeweiligen
Ländern vorhandenen Rohstoff e, bei der nun der Staat einen Anteil an den er-
wirtschaft eten Gewinnen fordert und bekommt. Von Verstaatlichung im Sin-
ne einer komplett en Kontrolle der Staaten über die jeweiligen Rohstoff e kann
also keine Rede sein und auch die Prozesse zur Ausweitung der staatlichen
Kontrolle sind nicht revolutionär, sondern beschränken sich auf steuerliche
Veränderungen, Aufk auf von Produktionsmitt eln oder aber Enteignungen mit
Entschädigungen. Und die Unternehmen, die mit den Regierungen kooperie-
ren, profi tieren auch weiterhin von den Rohstoff en.
Dennoch sind die Erfolge der neuen linken Regierungen nicht von der Hand zu weisen. Erfolg in der Hinsicht, als dass damit zumindest rudimentäre Pro- 5 ExxonMobile klagte gegen diese Maßnahme vor der internationalen Handels-kammer ICC und bekam im Dezember 2011 eine Entschädigung von 908 Millionen US-Dollar zugesprochen, was angesichts der ursprünglichen Forderung von zwölf Milliarden US-Dollar als herber Verlust von Exxon bezeichnet werden kann.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika gramme zur sozialen Sicherung implementiert und fi nanziert werden konnten und somit großen Teilen der Bevölkerung, die durch die neoliberale Politik der 1980er und 1990er Jahre verarmt waren, geholfen werden konnte. Am deut-lichsten zeigt sich dieser Erfolg in Venezuela, wo zwischen 1999 und 2008 die Armutsrate fast halbiert werden konnte. Aber auch in Bolivien und Ecuador haben die durch Petrodollars fi nanzierten Sozialprogramme eine erste Sen-kung der Amutsquote bewirkt. Gefahr birgt hierbei allerdings die einseitige Ausrichtung auf die Rohstoff einnahmen: In allen drei Ländern machen die Rohstoff exporte den Löwenanteil an den gesamten Exporten aus.6 Verglichen mit der Situation, die diese Länder in den 1990er Jahren erlebten, als durch die Hegemonie des Neoliberalismus eine souveräne Rohstoff politik undenk-bar erschien, stellt die erhöhte staatliche Kontrolle über die Rohstoff sektoren jedoch einen enormen Fortschritt dar.
Gleichzeitig ist gerade die Erdölförderung und Rohstoff ausbeutung im All- gemeinen mit enormen Konsequenzen für die lokale Bevölkerung und die Umwelt verbunden. Auch muss austariert werden, inwiefern die Exploration und Ausbeutung neuer Rohstoffl ager den Rechten indigener Gemeinschaft en entgegensteht. Schließlich waren es gerade in Bolivien und teilweise auch in Ecuador indigene soziale Bewegungen die Evo Morales und Rafael Correa in die Regierungsämter brachten. Diese fordern zu Recht die Respektierung ih-rer Lebensweise ein. Gerade der jeweilige Umgang mit Yasuni-ITT TIPNIS-Konfl ikt7 (siehe Text von Sarela Paz in diesem Band) verdeutlicht die Widersprüchlichkeit zwischen Regierungshandeln und den eigenen (diskur-siven) Ansprüchen. Unstritt ig ist, dass ein wirtschaft liches und soziales Mo-dell, das nur auf der Ausbeutung von Rohstoff en beruht, zumindest langfristig überwunden werden muss, sollen die Errungenschaft en, die die neuen linken Regierungen gerade für arme Bevölkerungsschichten erreicht haben, nachhal-tig wirksam sein. 6 Bolivien: 40, 5 Prozent; Ecuador: 50,5 Prozent; Venezuela: 95,8 Prozent. AlleZahlen aus dem Jahr 2009 (Mähler 2011: 3) 7 Dabei geht es um den Konfl ikt um den Bau einer Überlandstraße durch dasindigene Territorium TIPNIS in Bolivien.
Der Neue Extraktivismus Literatur
Azzellini, Dario (2007): Venezuela Bolivariana – Revolution des 21.
Jahrhunderts?
; Köln: ISP Verlag.
omas (2006): „Die Plünderung ist vorbei" – Boliviens Nationalisierung der Öl- und Gasindustrie; Berlin: Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL).
Kaup, Brent Z. (2010): „A Neoliberal Nationalization? – Th e Constraints on Natural-Gas-LedDevelopment in Bolivia"; In: Latin American Perspectives, Mai 2010, Vol. 37, Nr. 3, S. 123-138.
Kühn, Jan (2007): „Die venezolanische Linke und der Bolivarianische Prozess"; In: Andrej Holm (Hg.): Revolution als Prozess – Selbstorganisierung und Partizipation in Venezuela; Hamburg: VSA-Verlag, S. 117-135.
Mähler, Annegret, Gabriele Neußer & Almut Schilling-Vacafl or (2011): „Schwarzes Gold und grüne Ambitionen: Ressourcenpolitik in den Andenländern"; In: GIGA Focus Lateinamerika, Hamburg: ILAS, S. 5-11.
Merino, Roger (2011): What is ‘Post' in Post-Neoliberal Economic Policy? Extractive Industry Dependence and Indigenous Land Rights in Bolivia and Ecuador; htt p://ssrn.com/abstract=1938677 (Zugriff : 31.01.2012).
Minkner-Bünjer, Mechthild (2007): „Ecuador unter Correa: Rückkehr zur Stabilität?"; In: GIGA Focus Lateinamerika, Hamburg: ILAS, S. 4-7.
Perreault, Tom & Gabriela Valdivia (2010): „Hydrocarbons, popular protest and national imaginaries: Ecuador and Bolivia in comparative context"; In: Geoforum, 41(5), S. 689-699.
Ptak, Ralf (2007): „Grundlagen des Neoliberalismus"; In: Christoph Butt erwegge et al. (Hg.): Kritik des Neoliberalismus; Wiesbaden: VS Verlag, S.13-86.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Wilpert, Gregory (2007): Changing Venezuela by taking power – the history and politics of the Chávez government; London, New York: Verso.


Der Neue Extraktivismus


Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Wirtschaft und Sozialpolitik in Venezuela und Bolivien Der mit der staatlichen Kontrolle über die extraktiven Industrien verbundene Anstieg der staatlichen Einnahmen hat in Venezuela und Bolivien zu einer Ausweitung der Sozialausgaben geführt – eine Zusammenstellung wirtschaft licher Indikatoren Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Luis Sandoval & Jake Johnston Während der aktuellen wirtschaft lichen Expansionsphase in Venezuela haben sich Armut und extreme Armut deutlich reduziert. Der Anteil der Haushalte in Armut sank um mehr als die Hälft e, von 54 Prozent in der ersten Jahreshälft e 2003 auf geschätzte 26 Prozent Ende 2008. Der Anteil der Haushalte in extremer Armut sank sogar noch mehr: um 72 Prozent auf sieben Prozent aller Haushalte. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, die Venezuela in greifb are Nähe der vollständigen Abschaff ung der extremen Armut rückt. Es sei angemerkt, dass in den Millenium-Entwicklungszielen der UNO eine Halbierung der extremen Armut innerhalb des Zeitraums 1990 bis 2015 gefordert wird. Nimmt man die erste Jahreshälft e 1999 zum Ausgangspunkt, hat sich der Anteil der Haushalte in Armut um 39 Prozent vermindert, von 42,8 auf 26 Prozent. Der Anteil extremer Armut sank um mehr als die Hälft e, von 16,6 auf sieben Prozent.
Zudem erfolgte eine deutliche Verringerung bei der Ungleichheit nach dem Gini-Index1. Seit der Wahl von Chávez sank dieser um nahezu sechs Punkte, von 46,69 auf 40,99. Während der jüngsten Expansionsphase war die Verrin-gerung sogar noch größer: um mehr als sieben Punkte von 48,11 auf 40,99. Um sich eine Vorstellung von der Größenordnung dieser veränderten Ein-kommensverteilung machen zu können, vergleiche man die Zahlen mit einer 1 Mit dem GINI-Index (auch GINI-Koeffi zient) wird statistisch die Ungleichvertei-lung in einer Ökonomie dargestellt. Je höher der Wert ist, desto ausgeprägter ist die Ungleichheit (Anm. d. Hrsg.) Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika ähnlichen Entwicklung in die andere Richtung: Von 1980 bis 2005 stieg der Gini-Index für die USA von 40,3 auf 46,92 Punkte. In dieser Zeit erfolgte eine große Umverteilung der Einkommen (von unten nach oben).
Gesundheit und Bildung in Venezuela
Die Gesundheitsindikatoren, vor allem bei Kindern, haben sich in den letzten zehn Jahren aufgrund der Sozialpolitik der Regierung verbessert. Die Säug-lingssterblichkeit ist um mehr als ein Dritt el gefallen, von 21,4 auf 14,2 Todes-fälle pro 1.000 Lebendgeburten. Die größte Verbesserung fand bei Kindern im Alter zwischen einem und elf Monaten statt : die postnatale Sterblichkeit sank um mehr als die Hälft e, von 9,0 auf 4,2 Fälle pro 1.000 Lebendgeburten.
Eine ähnlich verbesserte Situation zeigt sich bei der Ernährungssicher- heit der venezolanischen Bevölkerung. Die durchschnitt liche Kalorienzu-fuhr stieg von 91 Prozent der empfohlenen Menge 1998 auf 101,6 Prozent im Jahr 2007. Noch wichtiger aber: Die Zahl der Sterbefälle aufgrund von Mangelernährung sank zwischen 1998 und 2006 um über 50 Prozent, von 4,9 auf 2,3 Fälle pro 100.000 Einwohner_innen. Zur Erreichung dieses Ziels haben zwei neue Programme beigetragen: Erstens das Schulspeisungspro-gramm Programa Alimenticio Escolar (PAE), das im Jahr 1999 an eine Vier-telmillion Schüler_innen kostenloses Frühstück, Mitt agessen und einen Imbiss verteilte. Im Jahr 2008 kamen bereits über vier Millionen Schü-ler_innen in den Genuss dieser Leistung. Zweitens das Netz staatlicher Le-bensmitt elläden Mercal, das 2003, im Jahr seiner Gründung, 45.662 Tonnen stark verbilligter Lebensmitt el verkauft e. Im Jahr 2008 waren es bereits 1,25 Millionen Tonnen.
Eine weitere Verbesserung für die Gesundheitssituation ist der im Ver- gleich zu der Zeit vor Chávez‘ Amtsantritt viel größere Anteil der Bevölke-rung mit Zugang zu Trinkwasser und Abwasserentsorgung. 1998 hatt en 80 Prozent der Venezolaner_innen Zugang zu Trinkwasser und 62 Prozent zu Abwasserentsorgung. Im Jahr 2007 hatt en 92 Prozent Zugang zu Trinkwas-ser und 82 Prozent verfügten über eine Abwasserentsorgung. Von 1998 bis heute ist die Zahl der Venezolaner_innen mit Zugang zu sauberem Trink-wasser um etwa vier Millionen gestiegen, die der Personen mit Abwasser-entsorgung um über fünf Millionen.
Der Neue Extraktivismus Die verbesserten Zahlen sind auch einer deutlich ausgeweiteten Ge- sundheitsversorgung geschuldet. Von 1999 bis 2007 stieg die Zahl der All-gemeinmediziner_innen im staatlichen Gesundheitssystem um mehr als das Zwölff ache, von 1.628 auf 19.571, wodurch Millionen armer Venezo-laner_innen erstmals Zugang zur Gesundheitsversorgung erhielten. 1998 betrug die Zahl der Notfallstationen 417, die der Rehabilitationszentren 74 und die allgemeinmedizinischer Einrichtungen 1.628. Im Februar 2007 gab es dagegen 721 Notfallstationen, 445 Rehabilitationszentren und 8.621 allgemeinmedizinische Einrichtungen (6.500 davon sind Ambulanzen, vor allem in Armenvierteln). Diese neuen Gesundheitsstationen wurden seit dem Beginn des Programms über 250 Millionen Mal aufgesucht, jede ein-zelne also knapp 37.000 Mal. Seit 2004 erhielten 399.662 Personen Augen-operationen, durch die ihr Sehvermögen wieder hergestellt wurde. 1999 er-hielten 335 HIV-Patienten eine antiretrovirale Th erapie durch den Staat, im Jahr 2006 waren es bereits 18.538.
Verbesserungen der Bildungssituation sind in Venezuela sowohl bei den regulären als auch bei den Schüler_innen des zweiten Bildungsweges zu beobachten. Der Schulbesuch von Kindern im schulpfl ichtigen Alter ist deutlich angestiegen. So stieg bei den Schüler_innen der grundlegenden Bildungsstufe (Klassen 1-9) die Teilnahme am Unterricht von 85 auf 93,6 Prozent, bei den höheren Jahrgangsstufen sogar noch mehr, von einem Fünft el auf über ein Dritt el der Bevölkerung.
Der Zuwachs bei den Schulbesuchszahlen für die grundlegende Bil- dungsstufe liegt bei 8,6 Prozent aller Kinder im Alter von fünf bis 14 Jahren – das sind fast eine halbe Million Kinder, die ansonsten keine Schulbildung erlangt hätt en. Im Bereich der höheren Bildung liegt der Anstieg bei 14,7 Prozent aller Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren. Das heißt, fast 400.000 Jugendliche mehr konnten infolge der größeren sozialen Investiti-onen ihren Bildungsweg an der Schule fortsetzen. Der größte Zuwachs be-traf jedoch die Hochschulbildung. Vom akademischen Jahr 1999/2000 bis 2006/2007 stieg der Anteil der Studierenden um 86 Prozent. Bei Auswei-tung des Zeitraums auf das akademische Jahr 2007/2008 ist Schätzungen Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika zufolge sogar ein Anwachsen um 138 Prozent zu verzeichnen.
Die Regierung Chávez rief ebenfalls die Misión Ribas ins Leben, ein Pro- gramm zur Erreichung eines Abschlusses der höheren Bildung auf dem zweiten Bildungsweg. Die Misión Ribas existiert seit 2003, die ersten Ab-solvent_innen erlangten ihren Abschluss dort im Jahr 2005. Während der ersten drei Jahre schlossen mehr als eine halbe Million Schüler_innen das Programm erfolgreich ab – das entspricht etwa drei Prozent der venezola-nischen Bevölkerung. Zusätzlich wurde von der Regierung mit der Misión Robinson ein groß angelegtes Alphabetisierungsprogramm durchgeführt.
Staatsfi nanzen und Leistungsbilanz
Die venezolanischen Staatseinnahmen haben erheblich vom Steigen der Öl-preise bis 2008 profi tiert. Der Weltmarktpreis klett erte von 19,30 US-Dollar pro Barrel 1999 auf 99,70 US-Dollar im Jahr 2008. Auch der Anteil Ein-nahmen, die nicht vom Erdöl stammen, am BIP stieg innerhalb der letzten zehn Jahre deutlich: von 11,7 Prozent des BIP 1998 auf 14,2 Prozent im Jahr 2007. Dies ist auf die eff ektivere Eintreibung der Steuern zurückzuführen.
Die Einnahmen des Staates stiegen von 17,4 Prozent 1998 auf 28,7 Pro- zent des BIP im Jahr 2007. Auch die Ausgaben des Staates erhöhten sich in diesem Zeitraum, von 21,4 auf 25,7 Prozent des BIP. 2007 erwirtschaft ete die Regierung einen Haushaltsüberschuss von drei Prozent des BIP.
Es ist anzumerken, dass in diesen Zahlen noch nicht alle staatlichen Aus- gaben der Zentralregierung enthalten sind. In den letzten Jahren wurde ein Großteil der Staatsausgaben direkt durch das staatliche Erdöl-Unternehmen PDVSA getätigt. So beliefen sich die öff entlichen Ausgaben von PDVSA in den ersten drei Quartalen ( Januar-September) 2008 auf 13,9 Milliarden US-Dollar – das entspricht 6,1 Prozent des BIP. Die realen (infl ationsbe-reinigten) Sozialausgaben pro Person haben sich zwischen 1998 und 2006 zudem mehr als verdreifacht. Die gesamte Staatsverschuldung sank im Lau-fe des Jahrzehnts von 30,7 auf 14,3 Prozent des BIP. Bei den staatlichen Auslandsschulden war der Rückgang sogar noch größer: von 25,6 auf 9,8 Prozent des BIP.
Der Neue Extraktivismus Bolivien: Die Wirtschaft unter der Regierung Morales
Seit 2004 sind die bolivianischen Staatseinnahmen um fast 20 Prozentpunk-te des BIP gestiegen. Dieser Zuwachs ist enorm (zum Vergleich: Die Ge-samteinnahmen der US-Regierung lagen in den vergangenen 40 Jahren bei durchschnitt lich 18,7 Prozent des BIP). Der größte Teil der Steigerung war den umfangreicheren Staatseinnahmen aus Erdöl- und Erdgas geschuldet, die seit der 2005 beschlossenen Erhöhung der Förderabgaben erzielt werden konnten. Die Regierung Morales setzte die Erhöhung von Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasindustrie 2006 durch die Wiederverstaatlichung der Betriebe fort. Dadurch stiegen die Staatseinnahmen in diesem Sektor von 2004 bis 2008 um 3,5 Milliarden US-Dollar: von 58,30 auf 401,1 US-Dollar pro Kopf (Dollarwert des Jahres 2008). Der Anteil am BIP betrug 5,6 Pro-zent im Jahr 2004 und erreichte einen Höchststand von 25,7 Prozent im vier-ten Quartal 2008. Der größte Zuwachs davon fand nach 2006 statt . Bis zum zweiten Quartal 2009 sanken die Staatseinnahmen aus Erdöl und Erdgas von ihrem Höchststand wieder auf 21,1 Prozent des BIP ab. Diese Entwicklung war dem Rückgang der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas im dritt en Quartal 2008 geschuldet, der Bolivien durch die Verträge der Regierung mit ausländischen Erdgaskonzernen erst mit Verzögerung erreichte.
Auch die Staatsausgaben erhöhten sich unter Morales erheblich, jedoch viel geringer als die Einnahmen: von 34 Prozent des BIP 2005 auf 45,1 Prozent 2008. Dadurch konnten während dieses Zeitraums beträchtliche Haushaltsüberschüsse erwirtschaft et werden, im Gegensatz zu den bestän-digen Haushaltsdefi ziten der Jahre 2000 bis 2005. Dies hatt e ein immenses Anwachsen der internationalen Währungsreserven zur Folge, vermutlich größer als notwendig. Die wichtigste fi nanzpolitische Maßnahme bestand jedoch in der Erhö- hung der Ausgaben 2007 bis 2009 (erste Jahreshälft e). Der Haushaltsüber-schuss von fünf Prozent des BIP im ersten Quartal 2008 verwandelte sich in ein Defi zit von 0,7 Prozent des BIP im ersten Quartal 2009 – eine deutli-che Verschiebung um fast sechs BIP-Prozentpunkte. Wohl vor allem durch diese Maßnahme wurden Bolivien die schwersten Folgen des Abschwungs erspart, der den übrigen Teil der Region mehrheitlich erfasste. Ohne die wiedererlangte Kontrolle der Regierung über Erdgasproduktion und -ein-künft e wäre dies nicht möglich gewesen.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Öff entliche Investitionen und Sozialausgaben
Ab 2003 wurden die Haushaltsausgaben für öff entliche Investitionen ge-senkt. Dann wurden sie von 6,3 Prozent des BIP im Jahr 2005 auf 10,5 Prozent in 2009 erhöht. Etwa 1,5 Prozent dieses Anstiegs entfi el auf Infra-strukturprojekte. Die öff entlichen Investitionen, inklusive der Infrastruktur-projekte, waren ein wichtiger Bestandteil der gestiegenen Staatsausgaben, vor allem des Ausgabenzuwachses im Jahr 2009. Investitionen in Infrastruk-tur sind wahrscheinlich für jedwede Entwicklungsstrategie Boliviens von großer Bedeutung; nach Angaben der Weltbank sind die Transportkosten in Bolivien etwa zwanzigmal höher als in Brasilien.
Ein Teil der höheren öff entlichen Investitionen ist auf die Schaff ung der boli- vianischen Entwicklungsbank Banco de Desarrollo Productivo (BDP) zurück-zuführen. Die Vorgängerinstitution Nacional Financiera de Bolivia (NAFIBO) besaß Ende 2006 ein Portfolio von 26,6 Millionen US-Dollar. Seit der Neu-gründung stieg das Portfolio der BDP kontinuierlich; bis Oktober 2009 um-fassten die von ihr ausgegebenen Darlehen insgesamt 15.903 Kredite im Wert von 156 Millionen US-Dollar (im Durchschnitt jeweils 10.000 US-Dollar). Das entspricht etwa einem Prozent des bolivianischen BIP im Jahr 2008. Bolivien hat auch die Ausgaben für Sozialprogramme für Arme im Gesund- heits- und Bildungsbereich erhöht. Drei Arten von Transferleistungen wur-den aus Einnahmen der Erdöl- und Erdgasproduktion geschaff en: der Bono Juancito Pinto, die Renta Dignidad und der Bono Juana Azurduy. Der Bono Juancito Pinto existiert seit 2006. Er besteht in einem jährlichen Zuschuss von 200 Bolivianos (ca. 29 US-Dollar) als Anreiz für Kinder, die Schule bis zur sechsten Klasse der Grundschule zu besuchen; um den Betrag erhalten zu können, müssen die Schüler_innen in der Schule angemeldet sein.
Die Renta Dignidad wurde 2008 eingeführt und ist eine Erweiterung des früheren Bonosol-Programms. Dieser Zuschuss wird allen über 60-Jährigen mit geringem Einkommen gewährt: 1.800 Bolivianos (ca. 258 US-Dollar) für Empfänger_innen von Sozialhilfe und 2.400 Bolivianos (ca. 344 US-Dollar) für Menschen ohne Sozialhilfe.
Der Bono Juana Azurduy (auch bekannt unter dem Namen Bono Madre Niño Niña) startete im Mai 2009. Dabei wird nicht versicherten, werden-den Mütt ern Geld dafür gezahlt, dass sie während und nach der Schwanger-schaft ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen, wodurch die Mütt er- und Der Neue Extraktivismus die Säuglingssterblichkeit verringert werden sollen. Werdende Mütt er er-halten jeweils 50 Bolivianos für die Vornahme von vier vorgeburtlichen Un-tersuchungen, 120 Bolivianos für die Geburt und 125 Bolivianos für jeden Arztbesuch bis zum zweiten Lebensjahr des Kindes. Für den Erhalt der Un-terstützung müssen die Mütt er die geforderten Besuche nachweisen.
Armut und Ungleichheit
Aktuelle Daten zur Armut in Bolivien liegen nur bis 2007 vor. Seit 2005 hat es hier kaum Veränderungen gegeben, sie stieg im Zeitraum 2005 bis 2007 um 0,5 Prozent. Auch die extreme Armut ist um einen Prozentpunkt angestie-gen. Diese Zahlen berücksichtigen jedoch nicht die verbesserten Zugangs-möglichkeiten zu öff entlichen Dienstleistungen, etwa im Gesundheits- oder Bildungsbereich. Auch die Folgen der Ausweitung der oben beschriebenen Programme im Jahr 2008 sind nicht enthalten. Bei der Verbesserung der Le-bensqualität für die Haushalte ist vor allem der breitere Zugang zu elektri-schem Strom zu nennen: Heute verfügen 80,2 Prozent der Haushalte über Strom, ein Zuwachs um fast 12 Prozent gegenüber ehemals 68,3 Prozent. Der Anteil der Haushalte mit Abwasserentsorgung stieg von 45,9 auf 50,8 Prozent, der Zugang zu fl ießendem Wasser stieg nur geringfügig.
Angesichts der Mitt el, die die Regierung in den letzten Jahren anhäufen konnte, gibt es noch deutlichen Spielraum für weitere Anstrengungen auf dem Gebiet der Armutsbekämpfung. Durch die oben beschriebenen Pro-gramme wurde ein beachtenswerter Anfang gemacht, sie müssen jedoch noch ausgeweitet werden. Ein Anteil extremer Armut von 37,7 Prozent, selbst wenn dieser in den letzten beiden Jahren etwas gesunken ist, ist immer noch sehr hoch. Extreme Armut beinhaltet, dass kein regelmäßiger Zugang zu lebensnotwendigen Dingen besteht: zum Beispiel haben etwa 28 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu Trinkwasser und 24 Prozent der Kinder unter drei Jahren sind unterernährt. Die Einrichtung von Programmen zur Verteilung subventionierter Lebensmitt el scheint dringend geboten, was im Jahr 2008 teilweise umgesetzt wurde, als die Lebensmitt elpreise in die Höhe schnellten. Es muss jedoch noch viel mehr getan werden, vor allem in ländli-chen Gebieten – 40 Prozent der bolivianischen Bevölkerung ist immer noch in der Landwirtschaft tätig. Einige Entwicklungsziele können nur mitt el- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika und langfristig erreicht werden, etwa die Schaff ung von Arbeitsplätzen und die Erhöhung der Produktivität in der Landwirtschaft . Vieles kann jedoch schon kurzfristig erreicht werden: durch Zugang zu subventionierten Le-bensmitt eln, Förderung kleiner Erzeuger_innen und Infrastruktur für einen verbesserten Trinkwasserzugang. Da das Land überschüssige Reserven hat und weit von der Gefahr einer Infl ation entfernt ist, ist die Hauptaufgabe, die vorhandenen Mitt el für praktische Projekte einzusetzen und auszugeben.
Bei der Betrachtung der Säuglings- und Kindersterblichkeit innerhalb der letzten 20 Jahre fällt auf, dass es im Zeitraum 2005 bis 2008 zu keiner mess-baren Verminderung der neonatalen Sterblichkeit und nur zu einer relativ geringen Verringerung der Säuglingssterblichkeit insgesamt kam. Die Zahlen gehören zu den höchsten in ganz Amerika. Wie bereits oben beschrieben, wurde jedoch im Mai 2009 das Programm Bono Juana Azurduy gestartet, das vor allem auf die vorgeburtliche Versorgung abzielt. Seine Erfolge bleiben abzuwarten, off ensichtlich ist sie jedoch äußerst notwendig. Zahlen zur Un-gleichheit liegen nur bis 2007 vor. Für den Zeitraum 2005 bis 2007 ist eine Verringerung der durch den Gini-Koeffi zienten gemessenen Ungleichheit von 60,2 auf 56,3 Punkte zu erkennen. Bei der Betrachtung der Entwicklung der Sozialausgaben in realen (infl ationsbereinigten) Bolivianos ist für den Zeitraum 2005 bis 2008 ein leichter Anstieg von 6,3 Prozent zu verzeichnen. Gemessen am BIP war hier jedoch ein geringfügiges Absinken festzustellen, von 12,4 auf 11,2 Prozent des BIP.
Angesichts des oben beschriebenen großen Anteils von Armen an der boli- vianischen Bevölkerung und ihrer Bedürft igkeit sowie der von der Regierung in den letzten Jahren angehäuft en Mitt el, scheint eine Erhöhung der Sozialaus-gaben zur Verringerung der Armut und der Befriedigung von Grundbedürfnis-sen, wie Versorgung mit Nahrungsmitt eln, Gesundheit und Bildung, geboten.
Anmerkung
Bei dieser Zusammenstellung handelt es sich um aus dem Englischen über-
setzte Auszüge aus zwei Studien des Center for Economic and Policy Research
(CEPR): Weisbrot, Mark; Rebecca Ray & Luis Sandoval (2009): Th e Chávez
Administration at 10 Years: Th e Economy and Social Indicators
und Weisbrot,
Mark; Rebecca Ray & Johnston, Jake (2009): Bolivia: Th e Economy During the
Morales Administration
. Die Studien sind zu fi nden unter: www.cepr.net
Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Der neue progressive Extraktivismus in Südamerika Eduardo Gudynas Während Europa und ein großer Teil der Welt sich in einer schweren Wirt-schaft s- und Finanzkrise befi nden, erlebt Südamerika eine Zeit des Wohlstands, mit hohen Wachstumsraten, Verringerung der Armut und niedriger Arbeitslo-sigkeit. Und während sich weltweit viele linke Parteien auf dem Rückzug be-fi nden, werden die Staaten Südamerikas zudem mehrheitlich von sogenannten progressiven Regierungen, oder der „Neuen Linken", regiert.
Trotz dieser Umstände und all der in Südamerika vollzogenen Veränderun- gen ist es bemerkenswert, dass ein Entwicklungsmodell aufrecht erhalten wird, das nach wie vor auf Rohstoff abhängigkeit setzt. Tatsächlich werden die traditi-onellen Aktivitäten in Bergbau und Erdölförderung nicht nur fortgesetzt, son-dern in vielen Ländern sogar noch ausgeweitet. Gleichzeitig wird eine immer intensivere Landwirtschaft betrieben. All diese Tätigkeiten, die sich dem so-genannten Extraktivismus zuordnen lassen, sind auf den Export ausgerichtet, und Südamerika verdankt sein anhaltendes Wirtschaft swachstum der Rolle als Rohstoffl ieferant für die globalen Märkte, insbesondere für Asien.
Dieses Phänomen vollzieht sich unter progressiven Regierungen. Zweifel- los unterscheiden sich deren Strategien von denen vorheriger konservativer oder Mitt e-Rechts-Regierungen, daher kann von einem neuen, „progressiven Extraktivismus" gesprochen werden. Dabei übernimmt der Staat eine aktivere Rolle, die Unterordnung unter den Weltmarkt wird allerdings beibehalten. Es werden Mitt el für Programme zur Armutsbekämpfung erwirtschaft et, die so-zialen und ökologischen Folgen bleiben jedoch bestehen. Es handelt sich also um ein heterodoxes Entwicklungsmodell, das voller Spannungen und Wider- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika sprüche ist, obwohl diese anders geartet sind als die der Vergangenheit. In dem vorliegenden Beitrag sollen einige zentrale Punkte dieser Situation zusammen-gefasst werden.
Der neue politische Kontext Südamerikas
Bis vor nicht allzu langer Zeit stellte die traditionelle Linke die konventio-
nellen Entwicklungsmodelle generell in Frage, und mit ihnen auch den Ex-
traktivismus. Kritikpunkte waren die Exportabhängigkeit, die Rolle der
Enklavenökonomien, die Arbeitsbedingungen, die enorme Macht ausländi-
scher Unternehmen, die sehr geringe staatliche Präsenz oder die schwache Be-
steuerung. Die Kritik richtete sich auf die typischen extraktiven Bereiche, wie
Bergbau und Erdölförderung. Es wurde gefordert, die neoliberalen Reformen
wieder rückgängig zu machen und mit der Abhängigkeit zu brechen. So wurde
von unterschiedlichen Kreisen angenommen, dass die Neue Linke nach Ero-
berung der Regierungsmacht substantielle Veränderungen in den extraktivis-
tischen Bereichen anstoßen würde.
Die Neue Linke, oder die progressiven Regierungen, kamen mit dem Ver- sprechen an die Macht, die Entwicklungsmodelle zu verändern. Zu dieser breiten und vielfältigen Gemeinschaft gehören die Regierungen von Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien, Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador, Luiz Inácio Lula da Silva und seine Nach-folgerin Dilma Rousseff in Brasilien, Tabaré Vázquez und José Mujica in Uru-guay sowie Hugo Chávez in Venezuela. Diesem Zusammenhang lassen sich, wenn auch unter Vorbehalt, ebenso Fernando Lugo in Paraguay und Ollanta Humala in Peru sowie für die Vergangenheit auch Michelle Bachelet in Chile zuordnen. Es ist völlig klar, dass es sich um sehr unterschiedliche Regierungen handelt – dennoch sagen alle, Teil derselben Strömung zu sein, und verteidi-gen auf ihre je eigene Weise die Rückkehr des Staates und den Kampf gegen die Armut. Der heutige Extraktivismus
Trotz dieses gewaltigen politischen Linksrucks werden in allen Ländern ex-
traktivistische Praktiken aufrecht erhalten. Die extraktivistischen Bereiche be-
halten nicht nur ihre Bedeutung, sie verwandeln sich in eine der wichtigsten
Säule aktueller Entwicklungsstrategien.
Der Neue Extraktivismus Von dem Venezuela Hugo Chávez‘ bis hin zu dem moderaten Lula da Silva in Brasilien setzt man weiterhin auf Bergbau und Erdöl. Der Anteil von Primär-gütern an den Gesamtexporten beträgt über 90 Prozent in Venezuela, Ecuador und Bolivien; er übersteigt die 80-Prozent-Marke in Chile und Peru; in Bra-silien unter Lula stieg er bis auf 60 Prozent (laut Angaben der CEPAL). Den größten Teil davon machen Bergbauprodukte, Kohlenwasserstoff e und export-orientierte Monokulturen aus. Man könnte argumentieren, es handle sich um eine von den vorherigen Re- gierungen übernommene „Gewohnheit", und ein Abweichen von diesem Weg sei naiv oder unvernünft ig. Eine solche Position spricht jedoch gegen die Fak-ten, haben doch die progressiven Regierungen dieses Modell nicht nur beibe-halten, sondern sie versuchen, es noch intensiver zu betreiben und auf weitere Bereiche auszudehnen.
Tatsächlich nimmt der exportorientierte Extraktivismus in allen genannten Ländern zu. Zum Beispiel klett erten die Exporte von Bergbauprodukten aus den Staaten des erweiterten MERCOSUR-Raums (Argentinien, Bolivien, Bra-silien, Chile, Paraguay und Uruguay) von 20 Milliarden US-Dollar 2004 auf den Spitzenwert von über 58 Milliarden im Jahr 2008, bevor sie auf über 42 Milliarden im Jahr 2009 absanken (CEPAL-Angaben). Ein Beispiel, das die In-tensivierung diese Modells gut illustriert, ist Argentinien: Von 2003 bis 2006, unter der Präsidentschaft von Néstor Kirchner, stieg die Gesamtzahl der Berg-bauprojekte um über 800 Prozent, die Gesamtinvestitionen stiegen um 490 Prozent, wobei die Investitionsvorteile und die bescheidenen Förderabgaben von drei Prozent beibehalten wurden (Gutman 2007). Unter der Regierung seiner Frau, Cristina Fernández de Kirchner, setzt sich dieser Trend fort, was besonders deutlich wird durch die Zustimmung zu dem mit Chile geteilten Bergbaugroßprojekt Pascua-Lama, das zur zweitgrößten Goldmine des Kon-tinents werden soll.
Unter Lula da Silva entwickelte sich Brasilien zur Bergbau-Nation: Es wird davon ausgegangen, dass das Land bis zum Jahr 2013 durch die Inbetrieb-nahme neuer Abbau- und Verarbeitungsbetriebe doppelt so viel Aluminium und dreimal so viel Kupfer produziert als bisher (USGS 2008). Zu Beginn der Regierung der Arbeiterpartei PT und ihrer Verbündeten im Jahr 2003 betrug die Kupferproduktion 264 Millionen Tonnen, bis 2008 stieg sie auf 370 Milli-onen Tonnen (IBRA M 2009); die Bergbau-Exporte klett erten von etwas über Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika sechs Milliarden US-Dollar 2003 auf mehr als 24 Milliarden US-Dollar 2009 (CEPAL-Daten). Derzeit sind die Bergbauexporte Brasiliens höher als in allen Andenländern zusammen.
Diese Expansion trifft auch auf andere Länder zu. Beispielsweise wurde in dem Erdölland Ecuador unter der Regierung Correa ein Programm zur För-derung von Bergbaugroßprojekten gestartet. Der Fall Uruguay ist noch dra-matischer: Dort spielte Bergbau eine marginale Rolle, doch nun treibt die Regierung Mujica intensiv den Abbau von Eisenerz in Tagebauen voran.
Es muss auch erwähnt werden, dass insbesondere in Argentinien, Brasilien und Uruguay eine grundlegende Umstellung der Landwirtschaft auf Mono-kulturen für den Export durchgeführt wurde. Dabei handelt es sich um agra-rischen Extraktivismus. Dieser lässt sich vor allem bei dem Anbau von Soja beobachten, welcher auf genetisch verändertem Saatgut, hohem Maschinen-einsatz, chemischen Herbiziden, geringer oder gar keiner Verarbeitung und dem Export als Rohstoff beruht. Dasselbe gilt für forstwirtschaft liche Mono-kulturen, die große Flächen in Anspruch nehmen und der Zellulose-Produk-tion dienen. Ein Extraktivismus neuer Art
Trotz des Festhaltens am extraktivistischen Modell darf man nicht annehmen,
es sei heute identisch mit dem der konservativen Regierungen in der Vergan-
genheit, da wichtige Veränderungen bei der Besteuerung, Förderabgaben etc.
statt gefunden haben.
Bei dem konventionellen Extraktivismus, insbesondere während der 1980er und 1990er Jahre, spielte der Staat eine eingeschränkte Rolle, während dem Markt die Betreibung der Projekte überlassen wurde, mit der Folge einer star-ken Transnationalisierung. Im Neo-Extraktivismus hingegen ist der Staat sehr viel aktiver; es gibt klarere Regeln (unabhängig davon, ob diese nun gut sind oder nicht), und es geht nicht notwendigerweise darum, politischen „Freun-den" zu Diensten zu sein. In einigen Fällen verhandelten die neuen Regie-rungen bestehende Verträge neu, erhöhten Förderabgaben und Steuern und stärkten die Position ihrer staatlichen Unternehmen.
Ein Beispiel für diese deutlichen Veränderungen ist Bolivien, wo die Re- gierung Evo Morales 2006 die Neuverhandlung der Verträge mit den Erdöl-konzernen durchsetzte, Förderabgaben und Steuern erhöhte sowie versuchte, Der Neue Extraktivismus das staatliche Erdölunternehmen YPFB zu stärken. In Venezuela geschah das-selbe: Die Regierung Chávez setzte die Mehrheitsbeteiligung des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA für Projekte mit Privatunternehmen durch, ebenso die verstärkte Zusammenarbeit mit Staatsunternehmen anderer Länder. So wur-den, um beim Beispiel Erdöl zu bleiben, in verschiedenen Ländern die Kon-zessionen neu ausgehandelt, bis hin zu den sogenannten Serviceverträgen, bei denen der Staat die Kontrolle über die Lagerstätt en hat und die privaten Unternehmen für Förderung und Vertrieb verantwortlich sind. Dies bedeutet eine aktivere Rolle des Staates, mit direkten und indirekten Eingriff en in die Förderung. Internationale Integration, Welthandel und Kapitalfl üsse
Während der alte Extraktivismus auf Exporte oder den Weltmarkt abzielte, be-
rufen sich die progressiven Regierungen auf Globalisierung und Konkurrenz-
fähigkeit. Indem sie die globale Krise des Kapitalismus akzeptieren, lassen sich
die linken Regierungen auch auf dessen Regeln für Handel, Kapitalfl üsse, die
Ausweitung des Warenbegriff s und der Eigentumsrechte ein. All dies mündet
in die Verteidigung internationaler Institutionen, wie der Welthandelsorgani-
sation (WTO).
Dadurch wird eine untergeordnete Rolle auf den globalen Märkte akzeptiert, wobei die südamerikanischen Staaten zu Mengenanpassern werden, stark von internationalen Zwischenhändlern und Brokern sowie Kapitalfl üssen abhän-gig sind und ihre nationalen Entscheidungen sich auf Gelegenheiten für Ge-schäft e beschränken. So entsteht unter den südamerikanischen Staaten eine blinde Konkurrenz um ausländische Investor_innen.
Die progressiven Regierungen kümmern sich nicht um die Erfahrungen der Vergangenheit. Einer der größten Fälle von Amnesie betrifft die Bemühungen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD um eine Regulie-rung des Welthandels und der Preise für Rohstoff e (sowohl fossiler als auch landwirtschaft licher Herkunft ).
Ebenso wird die Liberalisierung von Kapitalfl üssen unterstützt. Alle Länder versuchen, ausländische Investitionen zu akquirieren, und sichern den Unter-nehmen zu, ihre Gewinne abziehen zu können. So stiegen beispielsweise die von ausländischen Unternehmen ins Ausland transferierten Gewinne von gut 4,4 Milliarden US-Dollar in Chile zu Beginn der Ära Ricardo Lagos‘ auf über Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika 13 Milliarden zu Ende seiner Amtszeit, um während der Regierungszeit Mi-chelle Bachelets auf 25 Milliarden US-Dollar anzuwachsen.
Diese und andere Punkte zeigen, dass der Neo-Extraktivismus der Globa- lisierung der Waren- und Finanzmärkte dient und die untergeordnete Rolle Südamerikas in der Welt aufrecht erhält.
Deterritorialisierung und territoriale Fragmentierung
Das Voranschreiten der Ressourcenausbeutung in Bergbau, Erdölförderung
und exportorientierten Monokulturen hat tiefgreifende territoriale Auswir-
kungen. In vielen Fällen kündigen sich diese in der Ankunft von Arbeiter_in-
nen und Techniker_innen mit ihren Ausrüstungsgegenständen in abgelegenen
Gebieten an, wo erneut Enklavenökonomien geschaff en werden. Dies voll-
zieht sich innerhalb eines Prozesses der „Deterritorialisierung", der dadurch
gleichzeitig verstärkt wird. Dabei gelingt es dem Staat nicht, in seinem gesam-
ten Gebiet angemessen und einheitlich Präsenz zu zeigen, etwa bei der Ge-
währleistung der Bürgerrechte oder öff entlicher Dienstleistungen, während er
gleichzeitig aktiv die extraktiven Enklaven fördert und verteidigt.
Solche Enklaven führen zu den verschiedenartigsten territorialen, sozialen und ökologischen Spannungen – von Gewaltproblemen bis zu Folgen für die Umwelt aufgrund der Kontamination. Zudem sind für solche Projekte Ver-kehrswege erforderlich (wie z.B. das südamerikanische Straßenbau- und Was-serwege-Programm IIRSA), außerdem unterstützende Infrastrukturprojekte (etwa große Wasserkraft werke an den Flüssen im Amazonasgebiet), die weite-re Nachteile nach sich ziehen.
Innerhalb des neuen Extraktivismus wird die territoriale Fragmentierung in deterritorialisierten Gebieten also fortgesetzt und sogar noch verstärkt; es entsteht ein Gefl echt von Enklaven und ihren Verbindungen zu den globalen Märkten, wodurch die territorialen Spannungen noch verstärkt werden. Die Raumordnung des Neo-Extraktivismus passt sich an diese Projekte an. Ein Beispiel dafür ist die allmähliche Aufgabe von Agrarreformen unter der Regierung Lula da Silva, die durch die Eigentumsverteilung von Grundstü-cken außerhalb des Landbesitzes der Agrarindustrie ersetzt wurden, und die nur dort aufrecht erhalten werden, wo sie den Agrarbetrieben „nutzen" (de Oliveira 2009).
Der Neue Extraktivismus Eigentum und Produktionsprozesse
Im alten Extraktivismus wurde um das Eigentum an den Ressourcen gestritt en.
Die früheren Regierungen gaben ihr Eigentum ab oder schufen Abtretungs-
und Zugangsrechte für Ressourcen, etwa im Bergbau und der Erdölförderung,
die in der Praxis einer Übereignung gleichkamen. Dies hatt e eine starke Trans-
nationalisierung der extraktiven Bereiche zur Folge, und eine immer geringere
Bedeutung für staatliche Unternehmen.
Im Neo-Extraktivismus nimmt, wie bereits beschrieben, der Staat eine größere Rolle ein, weshalb die Kontrollen über den Zugang zu Ressourcen verstärkt werden. Fast immer wird darauf bestanden, dass diese sich in Staats-eigentum befi nden. Gleichzeitig wurden Staatsbetriebe wieder ins Leben gerufen,wie im Fall der Stärkung des staatlichen Erdölunternehmens YPFB in Bolivien oder neu geschaff en. Es gibt mehr Vielfalt, es existieren, kooperati-ve, gemischte und private Eigentumsformen. Trotzdem streben die Staaten oder staatlichen Unternehmen wirtschaft li- chen Erfolg an, und wiederholen daher unternehmerische Strategien, die auf Konkurrenzfähigkeit, Kostenreduktion und Rentabilitätssteigerung basieren. So ähnelt die Tätigkeit von Staatsbetrieben (wie PDVSA in Venezuela), ge-mischten Unternehmen (wie Petrobrás in Brasilien) oder Privatfi rmen (wie Repsol YPF in Argentinien) immer mehr den bekannten Praktiken der alten transnationalen Unternehmen, wie Exxon oder BP.
Daher ist es besonders wichtig, sich einzugestehen, dass unter den progres- siven Regierungen, abgesehen vom Eigentum an den Ressourcen, die Regeln und Funktionsweisen von Produktionsprozessen reproduziert werden, die nach Konkurrenzfähigkeit und Rentabilitätssteigerung nach klassischen Effi terien streben, wozu auch die Externalisierung von sozialen und ökologischen Folgen gehört. Selbst dort, wo die staatliche Präsenz verstärkt wird, wird diese dazu genutzt, mit Privatunternehmen Verträge über Zusammenschlüsse, Gesell-schaft en oder Joint Ventures abzuschließen. Das soziale und ökologische Auft re-ten der staatlichen Erdölunternehmen ist mangelhaft und sehr kritikwürdig; gute Beispiele dafür sind das Agieren von Petrobrás in den Andenländern oder der uruguayische staatliche Erdölbetrieb ANCAP.
Daraus ergeben sich weitreichende Schlussfolgerungen. Eine der wichtig- sten ist, dass, neben der Debatt e über das Eigentum an den Ressourcen und Produktionsmitt eln, eine viel tiefer gehende Diskussion über Struktur und Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Dynamik von Produktionsprozessen angestoßen werden muss, sowohl wenn diese durch den Staat als auch durch andere Akteure gesteuert werden. Die Produktionsprozesse sind folgenreich sowohl für die soziale und ökologische Situation als auch für die Handels- und Wirtschaft sbeziehungen.
Sozial-ökologische Folgen und zivilgesellschaft liche Konfl ikte
Die extraktivistischen Enklaven gerieten wegen ihrer weitreichenden sozialen
und ökologischen Konsequenzen vielfach in die Kontroverse. Die negativen
Auswirkungen reichen von der Verschärfung lokaler Ungleichheiten, über die
Kontamination hin zum Verlust biologischer Vielfalt. Die in den letzten Jahren
gesammelten empirischen Beweise sind vielfältig und überzeugend: Sie zei-
gen, dass die sozialen und ökologischen Auswirkungen üblicherweise exter-
nalisiert werden.
Eines der auff allendsten Probleme der neuen Regierungen ist, dass keine substantiellen Verbesserungen bei der Bekämpfung dieser negativen Eff ekte festzustellen sind; insbesondere bei der Umweltfrage könnte man behaupten, dass es in einigen Ländern Rückschritt e gegeben hat. Die Auswirkungen blei-ben also bestehen und haben sich in einigen Fällen sogar verschärft . Die Maß-nahmen zu ihrer Eindämmung und Verhinderung sind nach wie vor ineff ektiv, gelegentlich werden sie sogar abgebaut oder behindert.
Doch es gibt auch aktuelle Beispiele für Widerstand wie etwa die Protes- te gegen den Bergbau in Ecuador, die indigenen Proteste gegen Wasserkraft -, Straßenbau- und Bergbauprojekte in Bolivien oder die Bürgerversammlungen gegen die Minen an den argentinischen Andenhängen.
Die Debatt e um die sozialen, ökologischen und territorialen Folgen wird unter den progressiven Regierungen noch unschärfer. So reden Morales oder Mujica die ökologischen Folgen immer wieder klein oder machen sich über Umweltschützer_innen lustig. Nicht selten werden deren Warnrufe als Refl exe einer alten bürgerlichen Schicht oder im Dienste oppositioneller politischer Interessen verortet. Selbst in Chávez‘ Venezuela wurde verkündet, der Staat Zulia sei ein Gebiet, das „für Bergbau und Erdöl geopfert" (García-Gaudilla 2009) werde. Von einigen Regierungen werden Indigene und Bauern sogar be-zichtigt, Entwicklung zu „verhindern" (Bebbington 2009).
Das erklärt, warum die sozialen Proteste gegen den Extraktivismus in allen Ländern mit progressiven Regierungen weiter bestehen. Selbst in Staaten, die Der Neue Extraktivismus angeblich Ruhe vor solchen Konfl ikten haben, wird bei aufmerksamer Betrach-tung ein anderes Bild sichtbar. So stieg etwa in Brasilien während der ersten Amtszeit Lula da Silvas die Zahl der Landkonfl ikte signifi kant an und befi ndet sich, trotz eines Rückgangs während seiner zweiten Amtszeit, weiterhin auf ho-hem Niveau (Bild 1). Dies ist zurückzuführen auf Faktoren wie schlechte Ar-beitsbedingungen, Sklavenarbeit und Gewalt gegen Indigene, vor allem in der Amazonas-Region – oft mals in direkter Verbindung zum Neo-Extraktivismus. Die vorübergehende Verringerung der Konfl ikte wurde durch ökonomische Entschädigung, strafrechtliche Verfolgung der Proteste und Schwächung von Sozial- und Umweltbestimmungen erreicht.
Bild 1. Auft reten von Konfl ikten und Morden im ländlichen Raum in Brasilien. Der
Beginn der Amtszeit Lula da Silvas (1.1.2003) ist gekennzeichnet. Grafi k des Autors auf Grundlage von Daten der Comissão Pastoral da Terra in Brasilien.
Überschüsse und politische Legitimation
Während des klassischen Extraktivismus waren die Steuern, Förderabgaben
oder Konzessionsgebühren gering, und somit die Abschöpfung von Über-
schüssen durch den Staat eingeschränkt, man vertraute auf einen gewissen
Verteilungseff ekt. Im Neo-Extraktivismus ist bei einigen Regierungen ein
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika grundlegender Wandel zu beobachten: Der Staat schöpft viel aktiver Über-schüsse ab. Das zeigt sich in ganz verschiedenen Maßnahmen, etwa an den teilweise deutlich höheren Förderabgaben, einer höheren Besteuerung oder gar der direkten Rohstoff förderung durch Staatsbetriebe.
Dies ist vermutlich eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zum alten Extraktivismus, insbesondere in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Seine Konsequenzen gehen weit über den Wirtschaft sbereich hinaus, da mindestens zwei Aspekte berührt werden: Einerseits wird die aktivere Rolle des Staats deutlich, die den Regierungen mehr Möglichkeiten und Instrumente bietet, einen Teil des durch die extraktiven Industrien generierten Reichtums abzu-schöpfen. Andererseits nutzen die progressiven Regierungen diese Einkünft e für verschiedene Zwecke, von denen die Finanzierung von Sozialprogrammen heraussticht, die oft mals den ärmsten Bevölkerungsschichten zugute kommen (wie Bolsa Familia in Brasilien, Juancito Pinto in Bolivien oder das Programa Familias in Argentinien). Dadurch entsteht eine ganz besondere Situation: Fördertätigkeiten im Bergbau oder der Erdölindustrie werden mit der Finan-zierung von staatlichen Fürsorgeleistungen verknüpft . Teilweise geschieht das direkt, wie bei der Direktsteuer auf Kohlenwasserstoff e IDH in Brasilien, in anderen Fällen vermitt elt durch die staatlichen Institutionen der sozialen Für-sorge.
Es gibt also eine besondere Verbindung, bei der der Staat die aus dem Extrak- tivismus stammenden Überschüsse abzuschöpfen sucht und einen Teil davon für Sozialprogramme verwendet. Dadurch wird soziale Legitimität erreicht, die wiederum dazu benutzt werden kann, extraktive Tätigkeiten zu rechtferti-gen. In anderen Worten: Obwohl man sagen könnte, dass diese Regierungen sich von der klassischen Linken durch ihre Unterstützung des konventionellen Extraktivismus entfernen, kehren sie durch die Sozialprogramme zu ihr zurück und können sich als progressiv ausweisen. Die sozialen Maßnahmen erfordern jedoch eine steigende Finanzierung, weshalb die betreff enden Regierungen wiederum vom Extraktivismus abhängig sind, um fi nanzielle Ressourcen ab-schöpfen zu können.
Durch die Sozialprogramme, die Beteiligung des Staats und andere Maßnah- men gelingt es den Regierungen, ihre Wählerbasis zu behalten; gleichzeitig wer-den lokale gesellschaft liche Forderungen abgeschwächt. Beispielsweise lässt sich in Brasilien beobachten, dass, obwohl die Regierung Lula die Agrarreform Der Neue Extraktivismus nicht weiter vorantrieb und kein Land mehr an Siedler_innen und Landlose vergab, die Anzahl der in sozialen und Landlosenbewegungen organisierten Menschen abnahm. Dieser „Rückgang der Massenbewegungen und der Fluss von Regierungsgeldern in kompensatorische Maßnahmen (Hilfspakete aller Art) beschwichtigt Jene, die in den letzten 30 Jahren vehement für die Agrar-reform gekämpft haben. Alles deutet darauf hin, dass sich die beiden Prozesse bedingen" (de Oliveira 2009).
In Bolivien und Ecuador geschieht etwas Ähnliches: Hier bildet ein Gut- scheinsystem ein wichtiges Instrument zur Armutsreduktion (was gut ist), es wird allerdings auch dazu benutzt, den Extraktivismus zu verteidigen und zivilgesellschaft liche Warnrufe und Proteste zurückzuweisen (was schlecht ist). Der Stellenwert der fi nanziellen Kompensation hat dermaßen zugenom-men, dass in einigen Gebieten gar nicht mehr über die Durchführbarkeit eines Projekts diskutiert wird, sondern nur noch über die Höhe der Ent-schädigungszahlung. Durch die Unternehmen wird dieser Prozess noch ver-stärkt, indem sie staatliche Aufgaben ersetzen und selbst Schulen oder Ge-sundheitsstationen fi nanzieren.
Die durch den Extraktivismus fi nanzierten Kompensationsmaßnahmen verschaff en den progressiven Regierungen so eine soziale Legitimation und erschweren die Diskussion über extraktivistische Projekte. Wer den Extrakti-vismus in Frage stellt, sei gegen den nationalen Fortschritt und könnte sogar die Finanzierung der Sozialprogramme gefährden, so die Argumentation.
Neo-Extraktivismus, Armut und Entwicklung
Zunächst soll hier daran erinnert werden, dass unter früheren Regierungen
die progressiven und linken Kräft e kritisierten, der Extraktivismus trage zur
Entstehung von Armut bei; Enklavenökonomien wurden als etwas Negatives
betrachtet, weshalb nach Alternativen dazu gesucht wurde. Durch die progres-
siven Regierungen wird jedoch allmählich ein neuer Diskurs verankert, in dem
der Extraktivismus nun als notwendig für die Bekämpfung der Armut darge-
stellt wird. Es ist zu einer Umkehrung der früheren Position gekommen: Was
ehemals Widerspruch hervorrief, wird heute als etwas Positives angesehen,
das notwendig für die Entwicklung sei.
Es wird verkündet, am Ende werde die Bilanz schon positiv sein. Gelegent- lich wird sogar eingeräumt, es könne negative soziale und ökologische Auswir- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika kungen geben, doch sofort wird dagegen gehalten, diese seien handhab- und ausgleichbar oder müssten letztlich akzeptiert werden, angesichts des Gesamt-nutzens für das ganze Land. Gleichzeitig werden die Lagerstätt en von Erzen und Erdöl sowie die Fruchtbarkeit der Böden als Reichtümer betrachtet, die nicht „verschwendet" werden dürft en. Es entsteht ein Bild von Notwendigkeit und Dringlichkeit.
Ein gutes Beispiel für diese Verteidigungshaltung lieferte Präsident Correa in Ecuador. „Wir werden von dem Bergbaugesetz nicht abrücken, weil die ver-antwortungsvolle Entwicklung des Bergbaus für den Fortschritt des Landes grundlegend ist. Wir können nicht wie Bett ler auf einem Sack voller Gold sit-zen", äußerte er am 15. Januar 2009. So stellen die progressiven Regierungen das aktuelle Entwicklungsmodell als unabdingbar, wenngleich verbesserungs- und anpassungsfähig, dar; die Reichtümer dürft en nicht vergeudet werden. Und sie gehen noch einen Schritt weiter: Sie präsentieren sich selbst so, als ob nur sie diese Aufgabe effi zient gestalten und eine angemessene Verteilung des dadurch generierten Wohlstands sichern könnten.
Es lässt sich also eine grundlegende Veränderung beobachten: Der Extrakti- vismus wird heute als wichtiger Motor für das Wirtschaft swachstum betrach-tet und als entscheidender Beitrag im nationalen Kampf gegen die Armut. Man geht davon aus, ein Teil dieses Wachstums komme der übrigen Gesellschaft zu-gute, gleichzeitig gebe es nun einen aktiveren Staat, der diesen Eff ekt in Gang bringen, verwalten und steuern müsse.
Problematisch an dieser Position ist unter anderem, dass die reduktionis- tische Gleichsetzung von Wirtschaft swachstum und Entwicklung unhinter-fragt bleibt, und folglich – zumindest bis heute – auch keine alternativen Vor-stellungen von Entwicklung entstehen. Obwohl die Debatt en über das „gute Leben" in Bolivien und Ecuador dieses Potential besitzen, scheinen die Regie-rungen und andere gesellschaft liche Akteure dazu einen eher instrumentellen Bezug zu haben. Im Fall Boliviens ist die Situation sogar noch angespannter, da einige Artikel der neuen Verfassung überraschenderweise die „Industrialisie-rung" der natürlichen Ressourcen als staatliches Ziel benennen.
Das führt dazu, dass der Extraktivismus als Teil der durch die progressiven Regierungen ermöglichten Entwicklung angesehen und sogar als notwendig und dringlich wahrgenommen wird. Viele der alten Tricks der Bergbau- und Erdölunternehmen, die vor Jahren „Fortschritt ", „Arbeit" und „Wohlstand" für Der Neue Extraktivismus das Land und die lokalen Gemeinschaft en verhießen, erscheinen heute in neu-em Gewand, in neuer Gewichtung und mit größerer staatlicher Beteiligung. Auch hier lässt sich das Beispiel Brasilien anführen: Die Bergbauunternehmen profi tieren von der „Kameraderie und Unterwürfi gkeit des Staats und den pre-kären Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Gemeinden, wo sie tätig werden" und greifen den Diskurs über die „Ankunft von Entwicklung und Fortschritt " auf. Dank der Hilfe lokaler und regionaler Politiker_innen be-kommen sie günstige Bedingungen für ihre Ansiedlung und Tätigkeit, so die Comissão Pastoral da Terra in Brasilien (Reis Pereira et al. 2009).
Diese und andere Beispiele verdeutlichen, dass der Neo-Extraktivismus die Entwicklungsdiskurse rekonfi guriert: Die lokalen Gemeinschaft en sollen die Lasten der Auswirkungen als Opfer für angeblich nationale Ziele akzeptieren. Im Gegenzug wird ihnen eine Reihe an Kompensationsmaßnahmen angebo-ten, von klassischen Programmen der sozialen Fürsorge bis hin zur „Teilhabe" an den Unternehmen.
Diese Angebote sind stark ausdiff erenziert, weswegen es den Befürworter_ innen des Extraktivismus leicht fällt, Kritik als gegen die nationale Entwick-lung oder den Fortschritt gerichtet darzustellen, sie als infantil und verträumt oder sogar als gefährlich zu bezeichnen. Solche Begriff e wurden bereits von Correa, Morales und Lula da Silva angeführt. So kritisierte Präsident Morales beispielsweise im Juli 2009 gegen Erdöl- und Bergbaubetriebe protestierende Indigenen- und Bauernorganisationen, indem er fragte: „Wovon soll Bolivien denn leben, wenn einige NGOs keine Erdölförderung im Amazonasgebiet wollen?" (Econoticias Bolivia: 14. Juli 2009).
Neo-Extraktivismus als Fortschritt sglaube
Die Argumentation dieses Beitrags legt den Schluss nahe, dass der Neo-Ex-
traktivismus zum Bestandteil einer aktuellen südamerikanischen Version des
Strukturalismus geworden ist. Dieses neue Phänomen trägt verschiedene Be-
zeichnungen, etwa „neuer Strukturalismus" in Brasilien oder „nationale popu-
läre Entwicklung" in Argentinien; einige seiner Merkmale werden sogar von
Unterstützer_innen des sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts befür-
wortet (siehe auch Gudynas 2011a).
Es ist klar, dass angesichts der aktuellen Erfahrungen auf anderen Konti- nenten, vor allem in Europa, die Situation in Südamerika (Ablehnung von Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Marktanpassungen, Ende der IWF-Abhängigkeit, Initiierung eines neuen Strukturalismus mit staatlicher Präsenz) viele Sympathisant_innen hat und eine Vorbildwirkung einnimmt. Doch auch wenn diese positiven Aspekte an-erkannt werden müssen, sollten ebenso die schwerwiegenden Widersprüche und Spannungen zur Kenntnis genommen werden, die in diesem Beitrag zum Ausdruck gekommen sind.
Tatsächlich wird durch die Darstellung des neuen Extraktivismus als Ent- wicklungsmotor deutlich, dass die progressiven Ansätze Südamerikas sich erneut auf die klassischen Fortschritt skonzepte stützen. Die Grundpfeiler der Moderne bleiben bestehen, obwohl sie anders benutzt werden. Es herrscht immer noch der Glaube an ein wirtschaft liches Wachstum, vermitt elt durch Wissenschaft und Technik und gespeist aus den Reichtümern der Natur Süd-amerikas.
Die Neue Linke hat diese Ideen übernommen und betrachtet den Kontinent als Füllhorn natürlicher Ressourcen, die man auszubeuten habe – so bald wie möglich und mit aller Kraft . Die Regierungslinke hat das Konzept vor dem Hin-tergrund verschiedener Erfahrungen rekonfi guriert: Dazu gehören die Vorge-schichte ihrer eigenen politischen Kämpfe, die Folgen des Zusammenbruchs des Realsozialismus, die Forderungen der unteren Bevölkerungsschichten und der indigenen Völker sowie die Nachwirkungen neoliberaler Reformen. Man kann sozusagen von einer neuen Mischung sprechen, die sowohl alte als auch neue Zutaten enthält. Dadurch erklärt sich, warum der alte und der neue Ex-traktivismus bestimmte Gemeinsamkeiten besitzen, die Gewichtungen sich jedoch verschoben haben, gleichzeitig beide aber auch bestimmte Eigenheiten aufweisen. Auch einige Übereinstimmungen des Extraktivismus von so unter-schiedlichen Regierungen wie der von Rafael Correa in Ecuador und der von Alan García in Peru werden dadurch klarer. Die südamerikanische Linke sagt sich nicht von dem klassischen Hang zu ökonomischem Wachstum auf der Grundlage der Aneignung der natürlichen Ressourcen los. In ihrer neuen Programmatik nimmt der Extraktivismus eine wichtige Rolle ein. Er wird nicht abgelehnt, sondern soll noch intensiviert wer-den, damit er als einer der Motoren für das Wirtschaft swachstum, ja für die fi nanzielle Absicherung des Staates, funktionieren kann – auch wenn er einer Lenkung bedarf. Während der alte Extraktivismus mit dem Ungleichgewicht der Tauschbedingungen zu kämpfen hatt e, wird im Neo-Extraktivismus da- Der Neue Extraktivismus von ausgegangen, die hohen Weltmarktpreise seien eine Gelegenheit, die man nicht verpassen dürfe.
Das erklärt die Ablehnung und Ignoranz der progressiven Regierungen ge- genüber den Argumenten von Indigenen und Umweltschützer_innen.
Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wird nicht in Frage gestellt, nur ihre Kontrolle durch die Privaten oder das Ausland. Sobald die Regierungen jedoch die staatliche Kontrolle der Ressourcen übernehmen, reproduzieren sie dieselben Produktionsprozesse, wollen ihre Profi te maximieren, treten in ganz ähnliche Machtbeziehungen ein und verursachen dieselben sozialen und ökologischen Probleme.
Einige vorläufi ge Schlussfolgerungen
In diesem Beitrag wurden verschiedene Gedanken und Argumente dargelegt,
die das Fortbestehen des Extraktivismus in Südamerika zu erklären suchen. Die
zentrale Auff assung ist, dass dieser nicht mehr mit jenem früherer Jahrzehnte
identisch ist, sondern dass unter den progressiven Regierungen ein neuer Ex-
traktivismus entstanden ist. Bei dessen Beschreibung lassen sich alte und neue
Bestandteile ausmachen, er stellt jedoch ein neues Phänomen dar, mit neuen
Merkmalen, wie einer stärkeren Rolle des Staates sowie neuen Quellen sozia-
ler und politischer Legitimation.
Die Erkenntnis über die eigene Identität des progressiven Extraktivismus- Modells bedarf einer genauen und umsichtigen Betrachtung. Es ist wichtig, zu verstehen, dass der Neo-Extraktivismus keine neoliberale Strategie ist, die denen früherer Jahrzehnte ähnelt. Genauso wenig darf er jedoch als vielver-sprechende Alternative interpretiert werden, die automatisch zu einer Verbes-serung der Lebensqualität und zivilgesellschaft licher Unabhängigkeit führt. Es ist off ensichtlich, dass die Politik der aktuellen progressiven Regierungen in vielen Fällen substantielle Verbesserungen im Vergleich zu den konservativen Regierungen mit sich bringt. Es zeigen sich jedoch weiterhin Einschränkun-gen, Widerstände und Brüche, weshalb die heutige südamerikanische Linke nicht an den alten Maßstäben gemessen werden kann.
Die Auswirkungen des Neo-Extraktivismus nicht in den Blick zu nehmen oder Erkenntnisse aus Gründen der Parteilichkeit unter den Teppich zu keh-ren, ist ein Irrweg, vor allem in akademischen Zusammenhängen und innerhalb der sozialen Bewegungen. Die Verschwommenheit der Situation auszunutzen, Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika um auf hinterhältige Weise jedwede Handlung der regierenden Linken abzu-lehnen, ist ebenfalls verfehlt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Neo-Extraktivismus eines der größten Spannungsfelder bei der Schaff ung von Alternativen zum bestehen-den Entwicklungsmodell und in besonderem Maße auch für die Erneuerung der Linken darstellt (Gudynas 2011b). In mehreren Staaten stößt das Behar-ren auf Bergbau- und Erdölprojekten schon jetzt auf starken gesellschaft lichen Widerstand, da die negativen sozialen und ökologischen Folgen spürbar sind. Der wirtschaft liche Erfolg dieses Weges ist zudem stark von globalen Bedin-gungen abhängig, vor allem vom Rohstoffh unger Asiens. Überdies darf sich der Gerechtigkeitsbegriff nicht nur auf monatliche Zahlungen an die Ärms-ten beschränken – auch die Forderungen von Indigenen und Umweltschüt-zer_innen müssen gehört werden. Aus all diesen Gründen ist es notwendig, die Grundfragen von Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit zu überdenken, und davon ausgehend auch die Beziehungen zu den sozialen Bewegungen. An-gesichts der Herausforderungen der Entwicklung wird diese Auseinanderset-zung in Südamerika immer drängender.
Literatur
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Dos Reis Pereira, A.; J.B. Gonçalves Afonso & R. Gomes Cruz Neto [Hg.] (2009): A exploração minerária e suas conseqüências na Amazônia brasileira. Confl itos no Campo Brasil; Comissão Pastoral da Terra, Secretaria Nacional.
García-Gaudilla, M.P. (2009): „Ecosocialismo del siglo XXI y modelo de Der Neue Extraktivismus desarrollo bolivariano: los mitos de la sustentabilidad ambiental y de la democracia participativa en Venezuela"; In: Revista Venezolana Economía y Ciencias Sociales, 15(1), S. 187-223. Gudynas, E. (2011a): „Die Linke und die Ausbeutung der Natur"; In: Luxemburg, 2011, Nr. 1, S. 114-123. Gudynas, E. (2011b): „Die Grenzen des Fortschritt s und die Erneuerung der progressiven Bewegungen. Linke und Politische Ökologie in Südamerika"; In: Emanzipation, 1 (1), S. 34-50.
Gutman, N. (2007): „La conquista del Lejano Oeste"; In: Le Monde Diplomatique, Buenos Aires, 8(95), S. 12-14.
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Anmerkung
Der Beitrag wurde aus dem Spanischen übersetzt.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Soja-Expansion und Agrarstreik Anmerkungen zu den Vorkommnissen der Jahre 2008 und 2009 in Argentinien Norma Giarracca und Tomás Palmisano Von März bis Juli 2008 trugen die Regierung von Cristina Fernández de Kirch-ner und die in der Mesa de Enlace Agropecuaria1 organisierten landwirtschaft -lichen Interessenvertretungen einen Konfl ikt aus, der politisch, wirtschaft lich und gesellschaft lich von außerordentlicher Bedeutung war. Es gibt zahlreiche Details dieses Konfl ikts, die von den vielfältigen beteiligten Akteuren ver-schwiegen oder uminterpretiert wurden. Alle Beteiligten interpretierten ihn auf ihre eigene Weise: Von den Landwirt_innen bis hin zu den Intellektuel-len, sowohl diejenigen, die der Regierung kritisch gegenüber standen, als auch jene, die mit ihr auf einer Linie lagen und vor allem in dem Zusammenschluss Carta Abierta2 organisiert waren.
Unser Ansatz ist, den Agrarstreik im Rahmen eines landwirtschaft lichen Akkumulationsmodells zu betrachten, das sich derzeit in einem Großteil der argentinischen Landwirtschaft ausweitet und konsolidiert: das Soja-Modell. Innerhalb dessen gewinnt der Finanzsektor off ensichtlich immer mehr an Be- 1 Die Mesa de Enlace Agropecuaria wurde im März 2008 als Zusammenschlussder vier großen argentinischen Verbände des Agrobusiness gegründet. Mitglieder sind die Confederación Intercooperativa Agropecuaria (ConInAgro), die Confederaciones Rurales Argentinas (CRA ), die Federación Agraria Argentina (FAA) und die Sociedad Rural Argentina (SRA ) [Anm. d. Hrsg.].
2 Carta Abierta ist ein ebenfalls im März 2008 gegründeter Zusammenschluss vonIntellektuellen, die die Regierung von Férnandez de Kirchner unterstützten [Anm. d. Hrsg.].
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika deutung, er nimmt eine zentrale Stellung ein und seine Hochs und Tiefs wir-ken sich auf die Struktur des Agrarsektors aus. Daher erscheint es uns sinnvoll, mit einer gründlichen Analyse der nationalen und internationalen fi nanzwirt-schaft lichen Umstände – sowohl während des Ausbrechens des Konfl ikts als auch in aktuellen krisenhaft en Situationen – mögliche Deutungen des Agrar-streiks, seines Ablaufs und der aktuellen Lage zu liefern.
Nachdem wir im ersten Teil des vorliegenden Beitrags diese institutionelle Makroebene umreißen, ist es uns wichtig, zu verdeutlichen, dass die Akteu-re jedoch nicht vollständig durch diese konditioniert sind, sondern dass ihre Wahrnehmungen und Handlungsentscheidungen ebenfalls Auswirkungen auf den Kontext haben. Die Konstruktion einer bestimmten Realität erlaubt ih-nen, eine Auswahl zwischen den vielfältigen ihnen zur Verfügung stehenden Optionen zu treff en, wodurch einige umstandsbedingte Handlungen grund-legend für die Festlegung von Schnitt linien des Konfl ikts werden. Wir glau-ben daher, dass eine Rekonstruktion der Streitpunkte während des genannten Zeitraums für ein breites Verständnis des Konfl ikts unabdingbar ist. In diesem Sinne sind das Handeln der Mesa de Enlace (ME), die von der Regierung er-griff enen Maßnahmen sowie die Reaktionen der politischen Parteien und an-derer gesellschaft licher Gruppierungen zentral für dessen Verständnis.
Des Weiteren wollen wir eine Refl exion über die von uns benutzten Begriff e anstoßen, die zu dem Konfl ikt führenden fi nanzwirtschaft lichen Hintergründe darstellen, die Ereignisabfolge beschreiben und schließlich die aktuelle Situa-tion im Kontext der globalen Krise kommentieren.
Konzeptualisierung des Konfl ikts
Zunächst fassen wir die Konfl ikte in der ersten Hälft e des Jahres 2008 unter
dem Begriff „Agrarstreik" und verzichten auf den überfl üssigen Anglizismus
des „Lock-out" (Aussperrung).
Während des gesamten 20. Jahrhunderts existierte diese Form der Proteste der Landwirte, die nach der Rückkehr zur Demokratie 1983 sogar noch häu-fi ger auft rat (siehe Giarracca/Teubal/Palmisano 2008). Es handelte sich um kurze „Agrarstreiks", die entweder zu einer Einigung zwischen den Landwirt-schaft svereinigungen mit den zuständigen Behörden führten oder, bei einer nicht vollkommen zufriedenstellenden Lösung, wieder ausbrachen. Erst bei dem Streik im Jahr 2008 dauerten die Proteste über einen derart langen Zeit- Der Neue Extraktivismus raum an, ohne dass es zu einer Einigung mit den zuständigen staatlichen Stel-len gekommen wäre. Eigentlich war das Verhältnis zwischen Regierung und Agrobusiness bis dahin gut und von einer gewissen wirtschaft lichen „Teilhabe" geprägt gewesen, als die man die Besteuerung landwirtschaft licher Produkte in den vorherigen Jahren, unter der Regierung von Néstor Kirchner, charakte-risieren könnte. Dennoch scheiterte eine Einigung mit der Regierung und am 25. März hielt die Präsidentin eine politisch bedeutsame Rede, mit dem Ziel, den Konfl ikt öff entlich zu machen. Eine der Strategien, mit denen die Regie-rung versuchte, die Forderungen des Agrarsektors zu delegitimieren, war die Formulierung Lock-out, mit der suggeriert wurde, es gehe um gut verdienen-de Grundbesitzer_innen, die sich „unsolidarisch" gegenüber der Gesellschaft verhielten. Verschiedene „regierungstreue" Medien, Journalist_innen und In-tellektuelle griff en diese rhetorische Figur auf, um die von der Exekutive vorge-gebene binäre Sichtweise zu untermauern: Landwirtschaft (unternehmerisch, oligarchisch, etc.) versus Regierung (fortschritt lich, umverteilend, etc.).
So wie wir hier die historische Bezeichnung „Agrarstreik" verwenden (im Gegensatz zu der des Lock-out), müssen wir auch deutlich machen, auf wel-che Maßnahmen die Landwirt_innen eigentlich abzielten: Es handelte sich dabei um korporative Maßnahmen (es ging nur um ein Segment innerhalb des Agrarsektors, der sich damit angeblich selber schadete), die stark politisch auf-geladen war und die von politischen Parteien und verschiedenen gesellschaft -lichen Gruppen begleitet wurden, keinesfalls jedoch von einer „agrarischen sozialen Bewegung", wovon einige Mitt e-Links-Parteien sprachen.
Zum dritt en wollen wir die Legitimität des Regierungshandelns deutlich machen. Der argentinische Staat hat laut Verfassung das Recht, für Exporte Abgaben festzusetzen. Dieses Recht – Argentinien ist seit jeher ein Exporteur von Rohstoff en – basiert auf den Überschüssen, die durch die Ausbeutung na-türlicher Ressourcen, etwa Land, Wasser, Erdöl, Erz, etc., erwirtschaft et wer-den. Durch die „retenciones" (Exportsteuern) schöpft der Staat diesen in der politischen Ökonomie als „Rente" bezeichneten Überschuss ab, der mit dem Ansteigen der internationalen Preise ebenfalls wächst. Die Rente entspringt dem Wesen des wichtigsten Produktionsmitt els der Landwirtschaft : dem Bo-den. Im Kapitalismus wird diese Ressource wie eine Ware behandelt, obwohl sie in Wirklichkeit kein Produkt menschlicher Arbeit ist, sondern ein Gemein-gut, das aus historischen Gründen in Privateigentum überging.3 Die argentini- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika sche Verfassung spricht von der „sozialen Aufgabe des Bodens", was vielfältig interpretiert wurde. Eine der konservativsten Interpretationen, die in Argenti-nien immer vorherrschte, ist die, dass die Produkte der Erde dem Gemeinwohl zu Gute zu kommen haben. Deshalb ist in der Verfassung festgelegt, dass der Prozentsatz der Steuern durch die Gemeinschaft , vertreten durch den Kon-gress, festgelegt wird. Die von der ME und den politischen Parteien angeführ-ten Beispiele, mit denen der bis zu 50 Prozent betragende fl exible Prozentsatz kritisiert wurde, bezogen sich meist auf Regelungen für bestimmte Fälle (z.B. Erbschaft ssteuer). Auf Tabakprodukte sind bis zu 85 Prozent direkte und in-direkte Steuern zu entrichten, und das nicht nur in Argentinien, sondern auch in Ländern wie Schweden, Frankreich oder Deutschland. In jedem unabhän-gigen Land werden die Steuersätze auf solider und konsensualer Grundlage in den entsprechenden Gremien festgesetzt.
Der Präsidentenbeschluss 125
Seit einigen Jahrzehnten ist aufgrund einer ständig wachsenden Nachfrage
weltweit ein Anstieg der Preise für Agrarprodukte zu verzeichnen. Dieser Ef-
fekt wird von den meisten Analyst_innen auf einen gestiegenen Verbrauch in
bevölkerungsreichen Ländern wie Indien und China4; auf diverse Umweltkata-
strophen; auf den weiterhin steigenden Erdölbedarf, der sich nicht nur auf die
Betriebsstoff e auswirkt, sondern auch den Druck auf die Nutzung landwirt-
schaft licher Flächen für die Produktion von Biodiesel verstärkt; auf die argenti-
nische Binnenmarktexpansion aufgrund der wirtschaft lichen Entwicklung der
letzten Jahre, etc. zurückgeführt. Während die letzten beiden Erklärungsversu-
che einen gewissen Realitätsbezug aufweisen, wird ein gewichtiger Grund der
steigenden Rohstoff preise systematisch außen vor gelassen: das permanente
Vordringen der Finanzmarktlogik in den Agrarsektor. „Die (schwindelerregen-
de und sich potenzierende) Entwicklung des Future-Handels ist nichts und
3 Es existieren zahlreiche historische und aktuelle Studien zur Erwirtschaft ungvon Renten (Diff erentialrenten und absolute Renten) bei der Produktion in der argentinischen Pampa, von denen vor allem Flichman 1977, Arceo 2003 und Teubal 1975 hervorzuheben sind.
4 In Bezug auf China wird davon ausgegangen, dass der steigende Konsum eine Folgeder allmählichen Einführung kapitalistischer Spielregeln ist.
Der Neue Extraktivismus kann nichts anderes sein als Preistreiberei. Denn allein der Gedanke an eine zukünft ige Transaktion ist spekulativ" (Sabini Fernández 2008:15). Abgese-hen von den verschiedenen Schwankungen des Finanzsystems, hat der Preis für bestimmte Getreide und Ölfrüchte auf dem Weltmarkt zu einer Expansion ihres Anbaus geführt. Dadurch wurden nicht nur traditionelle Anbaukulturen verdrängt, sondern auch der landwirtschaft liche Anbau auf unberührte Wälder, Regenwälder und Yungas ausgedehnt. Es lässt sich eine Reprimarisierung der Ökonomie feststellen, bei der der Handelsbilanzüberschuss des Landes durch den Export von Gen-Soja aufrecht erhalten wird, wodurch die Zahlungen an verschiedene externe Gläubiger sowie die Bedienung der lokalen und interna-tionalen Finanzinteressen gewährleistet werden (Giarraca/Teubal 2005).
Im Rahmen dieses von der fi nanzwirtschaft lichen Bewertung abhängigen Akkumulationsmodells, lässt sich das Auft auchen neuer Akteure nicht nur in der Produktion feststellen, sondern auch im Handel und der Spekulation. Wenngleich die Figur des Großgrundbesitzers als Nutznießer dieses Systems bestehen bleibt, ist dieser nicht mehr der hegemoniale Akteur und auch nicht mehr der am meisten begünstigte. Zu den neuesten und von dem System am meisten profi tierenden Akteuren gehören die bekannten Saatgut-Pools und -konzerne sowie Investmentfonds. Mit der Verdrängung der Familienpro-duktion geht eine off enkundige Ausbreitung von Unternehmen einher, die mit großen, durch Sonderverträge abgesicherten Volumina umgehen und auf kurzfristige Profi te aus sind. Ihre Größe und Form kann sehr variieren, und hängt vom Besitz oder Nichtbesitz an Ländereien, der Ausdehnung der Anbaufl ächen, den vorhandenen Mitt eln etc. ab. Gleichzeitig bildet sich all-mählich eine Schicht von kleinen Grundbesitzer_innen heraus, die ihr Land angesichts der Unmöglichkeit, mit der Größe und der Technologie der gro-ßen Konzerne mitzuhalten, verpachten. Zu diesen neuen Akteur_innen inner-halb der Produktionssphäre gesellen sich noch die Exporteur_innen und die großen Lebensmitt elkonzerne, deren Stellenwert innerhalb der Wertschöp-fungskett e von Tag zu Tag zunimmt. Dazu gehören vor allem die Zulieferer von Saatgut und Betriebsstoff en, die verarbeitende Industrie, Supermärkte, etc. (siehe Teubal/Rodríguez 2002). Des Weiteren ist die Produktionsform dieses Modells eng mit der Verwendung eines speziellen Technologiepakets verknüpft , weshalb bestimmte mit seiner Weiterentwicklung und Modernisie-rung befasste Verbände zunehmend an Einfl uss gewinnen5 und zu den traditi- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika onellen Landwirtschaft svereinigungen, wie ConInAgro, CRA Das Zusammentreff en der weiter oben skizzierten fi nanzwirtschaft lichen Fak- toren mit bestimmten konjunkturellen Bedingungen führte dazu, dass in Chi-cago6 Anfang März 2008 der Preis für die Tonne Soja 550 US-Dollar erreichte, die Tonne Mais 215 US-Dollar und die Tonne Weizen 410 US-Dollar. Diese Beträge bedeuteten einen enormen Preiszuwachs im Vergleich zu den Vormo-naten und beruhten auf sehr positiven Erwartungen für die Ernte bestimmter Agrarprodukte, vor allem Soja und Mais. Das tendenzielle Ansteigen der Roh-stoff preise vollzieht sich dabei parallel zur Entwicklung einer Vielzahl sehr hete-rogener, über das ganze Territorium Argentiniens verstreuter Akteure. Vor diesem Hintergrund verkündete am 11. März der damalige Wirtschaft s- minister Martín Lousteau die Einführung eines durch die Exekutive dekre-tierten Systems fl exibler Exportsteuern für Soja, Sonnenblumen, Mais und Weizen, um die bestehenden Prozentsätze anzupassen. Durch das Dekret 125 wurden für die kommenden vier Jahre fl exible Steuersätze eingeführt, wobei die Quoten automatisch an die internationalen Schwankungen der Rohstoff -preise angepasst und täglich neu festgesetzt werden sollten. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt geltenden Preise bedeutete dies einen Anstieg der Steuer-sätze für Soja von durchschnitt lich 35 auf 44,1 Prozent und für Sonnenblumen von 32 auf 39,1 Prozent. Andererseits kam es für Weizen zu einem Absinken von 28 auf 27,2 Prozent und für Mais von 25 auf 24,2 Prozent. Die Maßnahme hatt e auch Auswirkungen auf die übrigen Anbausorten und Nebenprodukte – stiegen sie im Kurs, stieg auch der einbehaltene Steuersatz und umgekehrt. Die Ankündigung der erhöhten Abgaben begründete der Minister unter ande-rem mit der Notwendigkeit, den Binnenmarkt vor dem weltweiten Anstieg der 5 Unter diesen sind insbesondere die Asociación Argentina de Productores deSiembra Directa (Aapresid), die Asociación de Cámaras de Tecnología Agropecuaria (Acta) und die Asociación Argentina de Consorcios de Experimentación Agrícola (Acrea) zu erwähnen, die einem jüngst veröff entlichten Bericht zufolge mehr als eine Milliarde US-Dollar jährlich umsetzen und ständig „Neuerungen" für die landwirtschaft liche Produktion entwickeln.
6 Das „Chicago Board of Trade" ist die wichtigste Terminbörse für Rohstoff e; die dortzustande gekommenen Preise werden weltweit als Referenzpunkt genommen.
Der Neue Extraktivismus Lebensmitt elpreise zu schützen, sowie mit den Nachteilen der „Soja-Expan-sion": ihrer Konkurrenz mit und der Verdrängung von traditionellen Produk-tionszweigen, wie der Fleisch- und Milchproduktion. Damit wurde eine Kett e von Ereignissen angestoßen, die die öff entliche Meinung für Monate in Atem halten sollten.
Die beteiligten Konfl iktparteien
Bei den gesellschaft lichen Interpretationen ist der Ausgangspunkt oder Refe-
renzrahmen sehr wichtig, weshalb wir uns zunächst diesem Punkt zuwenden
wollen. Wie oben bereits ausgeführt, sind die Aktionen korporativer Forde-
rungen durch Agrarverbände nichts Neues; fast von Beginn ihres Bestehens
an forderten sie, gemeinsam oder allein, eine für ihren Sektor günstige Poli-
tik. Auch in den ersten Monaten des Jahres 2008 ließen sich eine starke An-
näherung und zahlreiche Forderungen von ConInAgro, CRA
gegenüber Institutionen und den Medien beobachten, die um Produktionsfra-gen kreisten, etwa um den Preis für Fleisch und Milchprodukte. Mit Tiziano Treu lässt sich sagen, dass „das Mitt el des Streiks oder seine Androhung dann einfach anzuwenden sind, wenn (wie in Schweden oder Deutschland) die Un-ternehmervereinigungen stark und zentralisiert sind, sowie bereit, gemeinsam Front zu machen" (Treu 2002: 1136). Das Zusammenkommen der wichtigen historischen Erfahrungen der Verbände und ihre konjunkturbedingte Nähe erklärt die schnelle Reaktion und Organisierung nach dem auslösenden Mo-ment des Konfl ikts: der Verkündung des Dekrets Nr. 125. Zwar war die Ge-schlossenheit innerhalb der ME bereits vorhanden, sie gewann jedoch danach von Tag zu Tag an Stärke. Nicht ohne Grund schloss sich auch ein Großteil der „chacareros"7 dem von der ME ausgerufenen Streik an. Am 12. März wurde ein Verkaufsstopp von Getreide verkündet, womit eine Spirale der Konfron-tation mit der argentinischen Regierung ihren Anfang nahm. Aufgrund der beschriebenen Situation der gestiegenen Preise auf dem Weltmarkt standen 7 Als „chacareros" werden in Argentinien umgangssprachlich jene produzierendenFamilienbetriebe bezeichnet, die einer seit 1912 begründeten Tradition von Kämpfen und landwirtschaft licher Produktion angehören, die durch den sogenannten Grito de Alcorta ausgelöst wurde. Der Schrei von Alcorta war eine Agrarrebellion, die ihren Ausgang in argentinischen Provinz Santa Fe hatt e.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika den Produzent_innen unmitt elbare Auswirkungen bevor, denn der Verkauf der Sojaernte hatt e noch nicht begonnen. Die Erhöhung des Steueranteils hat-te einen Anstieg des Verkaufspreises von fast zehn Prozent zur Folge und ließ aufgrund der damaligen Aussichten ein weiteres Ansteigen erwarten. Im ers-ten Moment wurde diese indirekte Folge der Steuererhebung durch keinerlei Kompensationsmechanismus abgemildert, was insbesondere kleine und mitt -lere Produzent_innen traf. Bekanntermaßen sind die Kosten und die Sensibi-lität gegenüber jeder Veränderung der Gewinnspannen größer, je kleiner ein Produktionsbetrieb ist. Im Fall des Sojaanbaus spielt dieser Faktor eine ent-scheidende Rolle, da das dafür notwendige Technologiepaket einen bedeuten-den Anteil an Betriebsstoff en enthält. Dennoch erschöpft e sich die Suche der Agrarverbände nach Hilfe nicht bei ihren traditionellen Unterstützer_innen, die sie als „Basis" bezeichneten und die im Laufe des Konfl ikts eigene Wege als „Selbstorganisierte" gehen sollten, sondern sie versuchten, die Unterstützung und die Legitimität der Proteste zu verbreitern, indem sie vom „allgemeinen Interesse" an der Landwirtschaft sprachen. Dadurch erreichten sie, dass auch andere Forderungen und Akteure in den seit seinem Beginn sektorspezifi schen Konfl ikt einbezogen wurden, vor allem mit Regierungsmaßnahmen unzufrie-dene Teile der Gesellschaft . Als Beleg dafür lässt sich eine Kundgebung in der Stadt Rosario am 25. Mai anführen, die sich durch ihre Größe und Heterogeni-tät auszeichnete. Abgesehen von der Anzahl der versammelten Menschen (je nach Quelle ist von 170.000 bis 300.000 Teilnehmer_innen die Rede) fi el die große Vielfalt auf: Einwohner_innen von Rosario aus verschiedenen sozialen Schichten, „chacareros" und andere Produzent_innen, der FAA angehörende Jugendliche, die in Chören eine Agrarreform forderten, Großproduzent_innen und Grundbesitzer_innen, Angehörige von mit der Regierung unzufriedenen Piquetero-Bewegungen, etc. Der Begriff „Landwirtschaft " war übergreifend genug, sie alle zu vereinen; der Konfl ikt drehte sich jedoch um die Verteilung der Bodenrente und nicht um eine Änderung des Akkumulationsmodells.
Dieses Bild zeigte sich während der ganzen Zeit, die der Konfl ikt andauerte und der vor allem durch eine klare Aushöhlung der Bestimmungen geprägt war. Die diskursiven Auseinandersetzungen sowie die Demonstrationen von Stärke und Unterstützung schienen eine zentrifugale Kraft zu erzeugen, durch die die Situation immer mehr polarisiert wurde. So wurden andere Sichtwei-sen auf den Konfl ikt, die das „Agrobusiness"-Modell an sich oder das Verhalten Der Neue Extraktivismus der Regierung kritisierten, umgehend unterdrückt oder einer der „Kriegspar-teien" zugeordnet. Die Äußerungen des Planungsministers Julio de Vido, „das ist nichts für Unschlüssige" und „wer sich nicht anschließt, bleibt zurück", cha-rakterisieren diese Logik, die erst wieder verschwand, als der Konfl ikt vor den Kongress kam. Die Entscheidung, die Debatt e dort zu führen, trotz der von der Regierung vorgeschlagenen Einschränkungen der Gesetzesvorlage, war eine demokratische Maßnahme, durch die die Situation entschärft und eine rationale Interaktion ermöglicht wurde – unabhängig von ihrem Ausgang. Nichtsdestotrotz lieferten sich beide Seiten parallel zur Kongressdebatt e eine mediale Schlacht um die Aneignung des öff entlichen Raums , in der die „Logik der Zahlen" (darüber also, wer auf Demonstrationen mehr Menschen zusam-menbekam) dominierte. Dieser schwere Fehler der Regierung überdeckte die demokratische Maßnahme, die Repräsentant_innen „aller" (der verschiede-nen im Kongress vertretenen Parteien) über die Frage entscheiden zu lassen. Bekanntermaßen verlor die Regierung zunächst die Schlacht um die öff entli-che Meinung und dann die in der Legislative.
Als Vizepräsident und Vorsitzender des Senats, Julio C. Cobos, sein Veto ge- gen das Gesetzesvorhaben einlegte, das das Präsidialdekret Nr. 125 bestätigt hätt e, bildete das den Schlusspunkt dieser Etappe des Konfl ikts und erlaubte eine Abschwächung und Richtungsänderung.
Aktuelle Hintergründe zur globalen Krise
Nur kurze Zeit nach dem berühmten „Nein" des Vizepräsidenten erhoben die
meisten Vertreter_innen der Agrarverbände erneut die Stimme gegenüber
der Regierung. Das überraschende Absinken der Rohstoff preise aufgrund der
globalen Finanzkrise hatt e ihnen einen bösen Streich gespielt: Denn die man-
gelnde Flexibilität des geltenden Steuersystems verstärkte noch die Verkleine-
rung der Gewinnspannen für Agrarproduzent_innen. Die Situation war in den
ersten Monaten des Jahres kaum vorauszusehen gewesen. Der Preis für Roh-
stoff e stieg ständig weiter, da diese als Sicherheit gegen den Zusammenbruch
der bedeutendsten Akteure der Finanzwelt galten. Der Einbruch der Preise der
wichtigsten Agrarprodukte in den folgenden Monaten, belegt den großen Ein-
fl uss den die Finanzmärkte auf die Lebensmitt elpreise haben. Es konnte nicht
als Erklärung angeführt werden, die Chines_innen äßen weniger8, es habe
eine Lebensmitt elüberproduktion gegeben oder der Biodiesel sei nicht mehr
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika gefragt9. Vielmehr wurde off enkundig, dass der immense Preiseinbruch von den internationalen Finanzmärkten verursacht wurde, als Folge eines generel-len Einbruchs bei spekulativen Geschäft en. Dadurch zeigte sich auch, dass die Rentabilität der Produktion der Logik der Bewertung durch die Märkte unter-worfen ist. Eine kritische Bestandsaufnahme würde nichts anderes bedeuten, als eine pessimistische Zukunft sperspektive zu entwerfen – Folge eines jahre-langen, im Verhältnis zur Realwirtschaft überproportionalen Wachstums der Finanzmärkte.
Diese wirkmächtige Logik, die die Geschicke der zeitgenössischen kapita- listischen Ökonomie zu lenken scheint, erlaubt uns zu verstehen, dass viele der von dem Beschluss der Regierung betroff enen Akteure eine untergeord-nete Rolle innerhalb der agroindustriellen Kett e der Sojaproduktion spielen. Die Exportfi rmen, Investmentfonds, Saatgutkonzerne, agrochemischen Be-triebe und das Finanzkapital waren von dem Konfl ikt nicht im selben Maße betroff en wie die Produzent_innen. Selbst bei international sinkenden Preisen ist der wichtigste Ausweg aus dem Soja-Produktionsmodell die Betriebsver-größerung, doch ist diese Strategie nur jenen Unternehmen vorbehalten, die mit ausreichend Kapital dafür ausgestatt et sind. Viele der kapitalistischen Pro-duzent_innen und „chacareros", die einen großen Teil dieses Jahres demons-trierten, werden in Zukunft nicht mehr rentabel arbeiten können und ihr Land an größere Unternehmen abtreten müssen. Daher gehen wir davon aus, dass nur durch Besteuerung und Beschränkung der Expansion und Konzentration dieser Sektoren demokratisierende Transformationen des argentinischen Öl-fruchtkomplexes und der Agroindustrie insgesamt möglich sind.
8 Zum besseren Verständnis dieses Th emas und zur Entmystifi zierung derBehauptung, der internationale Anstieg der Lebensmitt elpreise stehe im Zusammenhang mit der chinesischen Nachfrage, verweisen wir auf Nadal 2008: 6.
9 Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diverse Länder Gesetze erlassen haben,nach denen fossile und pfl anzliche Energieträger vermischt werden müssen, mit dem Ziel, ihre Erdöl-Abhängigkeit zu verringern. Aus diesem Grund, der auch zu einem Einsturz des Preises für das Barrel Rohöl führte, verringert sich der Anteil von zu diesem Zweck bestimmten Agrarprodukten nicht direkt proportional zum Sinken des Erdölpreises.
Der Neue Extraktivismus Die „Landwirtschaft der Zukunft " – abschließende Bemerkungen
Der in diesem Beitrag beschriebene Wandel des agrarischen Akkumulations-
modells zeigt die Fragilität und Abhängigkeit unserer Landwirtschaft vom
Weltmarkt auf. Betrachten wir alles, was durch die Lebensmitt elproduktion
an Wäldern und Yungas sowie an Wasserressourcen10 verloren gegangen ist,
wird noch deutlicher, warum wir behaupten, dass die Regierung sich in der
Landwirtschaft für die Wahl des neoliberalen Modells und seiner Förderung
entschieden hat.
Im Hinblick auf die aktuelle Krise gibt es nach unserer Einschätzung zwei Optionen: Weiterverfolgung des neoliberalen Weges mit der Aussicht auf noch gravierendere Ausbrüche von Armut und Hunger, als wir sie während der Jahre 2001/2002 erlebten, oder aber Ergreifen eines Maßnahmenpakets zur Umstrukturierung dieses Modells und Neuorientierung auf das, was Vía Campesina als „Ernährungssouveränität" bezeichnet: „Organisation der Pro-duktion und des Verbrauchs von Lebensmitt eln entsprechend der Bedürfnisse der lokalen Gemeinschaft en mit der Priorität auf Produktion und Verbrauch im Inland. Dies beinhaltet das Recht, die nationale land- und viehwirtschaft liche Produktion zu schützen und zu regulieren. Bauern und Bäuerinnen, Landlose und Agrarproduzent_innen müssen Zugang zu Land, Wasser, Saatgut sowie Produktionsressourcen und angemessene staatliche Unterstützung erhalten" (www.viacampesina.org). Für Argentinien bedeutet das, zu einer direkten Le-bensmitt elproduktion zurückzukehren und den Zugang zu einer gesunden und qualitativ hochwertigen Ernährung zu verteidigen, gegenüber den Interes-sen der Wirtschaft und gegenüber der Erwirtschaft ung von Devisen zur Finan-zierung eines Staats, bei dem in Frage steht, dass er der Bevölkerung dient.
Nur der Kongress – in einer unabhängigen Position gegenüber den korpo- rativen ökonomischen Interessen, die oft mals durch Gouverneur_innen oder 10 In den Morgenstunden des 30. September 2010 wurde schließlich das Gesetzüber „Minimalforderungen für den Schutz der Gletscher und der periglazialen Umwelt" (Wasserfabriken für Gegenwart und Zukunft ) angenommen, ausgehandelt zwischen dem Oppositionsabgeordneten Miguel Bonasso und dem Senator der Regierungsfraktion Daniel Filmus. Es sei darauf hingewiesen, dass das Gesetz zuvor von der Präsidentin abgelehnt worden war, mit der Begründung, die Exporte des Primärsektors müssten gefördert werden (in diesem Fall zu Gunsten der Bergbauunternehmen).
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika nationale Institutionen repräsentiert werden, und in Kenntnis der weltweiten Veränderungen in der näheren Zukunft – kann über das Schicksal der Land-wirtschaft , also das Schicksal Argentiniens für die nächsten Jahre, diskutieren und entscheiden. Wenn dies nicht geschieht und die Krise sich noch ver-schlimmert, bleibt immerhin noch die bewährte Lösung: unabhängige Räume zur Produktion von Nahrungsmitt eln suchen, unterstützen oder schaff en, die (in der Federación Agraria vereinten) Organisationen der Lebensmitt elpro-duzent_innen davon überzeugen, sich wieder für die Seite der „Ernährungs-souveränität" zu entscheiden und „das sinkende Schiff zu verlassen", um ein eigenes starkes Boot der Solidarität und Umsicht zu besteigen. Es sind die sozialen Bewegungen – vor allem jene, die sich schwerpunktmäßig mit na-türlichen Ressourcen befassen (Land, Wasser, Bergbau, Wald) – , die diese in Zeiten der Krise notwendigen Räume erschließen können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Konfl ikt der ersten Jahreshälft e 2008 der Vorbote ei-ner schweren Krise war, die weder die korporativen Verbände noch die Regie-rung vorauszusehen vermochten. Positiv daran war, dass die Legislative und die Gesellschaft angefangen haben, zu erkennen, was in der argentinischen Landwirtschaft vor sich geht: die Probleme der Bauern, die zum Soja-Anbau übergegangen sind; die Bauern, denen ihr Land entrissen wird; die schlecht bezahlten Landarbeiter_innen und Kinderarbeit.
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Der Neue Extraktivismus Nadal, Alejandro (2008): „Adiós al factor China"; In: Biodiversidad, sustento y culturas; Juli, Nr. 57, Argentina: redes-at, grain, Acción por la Biodiversidad,la Campaña de la Semilla de Vía Campesina, Acción Ecológica, el Grupo deSemillas de Colombia & el Grupo etc. (Hg).
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Anmerkung
Der Text ist zuerst auf Spanisch erschienen in: Norma Giarraca & Miguel Teu-
bal [Hg.] (2011): el paro agrario a la elecciones de 2009. Tramas, refl exiones
y debates; Buenos Aires, S.275 -286. Eine freie online-Version des Buches gibt
es unter: www.ger-gemsal.org.ar/fi les/pdf/libros/DelParoAgrarioALasElec-
cionesde2009-1.pdf . Für den vorliegenden Band wurde der Beitrag aus dem
Spanischen übersetzt und leicht gekürzt.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Der Marsch der TIPNIS-Indígenas Über den Zusammenhang zwischen den indigenen Protesten in Bolivien und den extraktivistischen Modellen Südamerikas Sarela Paz Der „Wasserkrieg" von Cochabamba in den Jahren 2000/2001 war in Bolivien der Auft akt für eine ganze Reihe von Protesten der Bevölkerung. Diese wa-ren deutlich auf eine Demontage des neoliberalen institutionellen Rahmens gerichtet, dem die Kapitalisierung und Transnationalisierung verschiedener Naturressourcen in Bolivien gelungen war. Die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends waren angefüllt mit innenpolitischen Protesten und Kämpfen. Es gab Momente großen Erfolgs, die der Bevölkerung die Mitsprache über die Zu-kunft der strategischen Naturressourcen ermöglichten: über Erdgas und Erdöl, Wasser und mineralische Ressourcen. Die Debatt e war von Mobilisierungen und zivilem Ungehorsam geprägt. Eine Industrialisierung und produktive Ent-wicklung zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung, ökonomische Perspektiven jenseits des Kapitalismus – das ließ uns Bolivianer_innen eine Zukunft aufscheinen, die sich von der bisherigen Rolle in der Weltwirtschaft unterschied. Die Wahl des ersten indigenen Präsidenten in der Geschichte des Landes im Dezember 2005 ermutigte, ernsthaft über Möglichkeiten für einen tiefgreifenden strukturellen Wandel der bolivianischen Gesellschaft nachzu-denken. Zehn Jahre später, von August bis Oktober 2011, unternahmen Indigene einen Marsch, der den Blick lenkte auf das, was wir im Hinblick auf unsere Träume und Pläne für die erste Hälft e des 21. Jahrhunderts bisher erreicht hatt en Der Marsch machte zunächst deutlich, dass es zwischen den indigenen Gruppen unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf Entwicklung gibt. Zwei-tens zeigte er, dass der wirtschaft liche Ansatz eines auf Rohstoff exporte ausge- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika richteten extraktiven Modells sich unter Morales nicht nur nicht verändert hat, sondern sogar noch verstärkt worden ist – in einer Zeit, da wir Bolivianer_in-nen gehofft hatt en, zur Verarbeitung von Öl und Gas überzugehen und somit nicht mehr nur ein Exporteur von Rohstoff en zu sein. Dritt ens off enbarte der indigene Marsch, dass das Konzept des plurinationalen Staats enorme Wider-sprüche zu einem auf Rohstoff exporte ausgerichteten extraktiven Modell auf-weist, welches für sein Funktionieren des Zentralismus und einer einheitlichen Nation bedarf. Es stellte sich die Frage, ob das politische Gebilde des pluri-nationalen Staats in einer extraktivistischen Ökonomie funktionieren und ob das extraktivistische Modell die Interessen der indigenen Völker überhaupt vertreten kann.
Der vorliegende Beitrag soll den durch den indigenen TIPNIS-Marsch von 2011 aufgeworfenen Konfl ikt analysieren. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern dieser Protestmarsch Ausdruck der Widersprüche des plu-rinationalen Staats Bolivien ist – einer Ordnung, die sich auf ökonomische und politische Pluralität beruft , diese jedoch einer auf extraktivistische Exportwirt-schaft ausgerichteten Regierungspolitik unterwirft . Die Herausforderung be-steht wohl darin, den Zusammenhang zwischen der indigenen Mobilisierung des TIPNIS und dem extraktivistischen Modell Boliviens zu erklären. Dies muss beinhalten, die Merkmale des Konfl ikts aufzuzeigen, sowie die beteilig-ten Akteure, die Verbindungen zwischen diesen Akteuren, ihre Interessen und die eines Staats, der ein extraktivistisches Rohstoff exportmodell auszubauen versucht.
Bei der Untersuchung dieser Aspekte ist es wichtig, die von den indigenen Gemeinschaft en des TIPNIS angestoßenen Entwicklungsprojekte zu berück-sichtigen, und zu betrachten, welche Alternativen sie dem die Staatsräson do-minierenden extraktivistischen Ansatz entgegenstellen.
Grundlegendes zum Verständnis des Konfl ikts
TIPNIS ist ein staatlich anerkanntes indigenes Territorium dreier indigener
Gruppen der Amazonasregion: der Yuracares und der Chimanes, die im Berg-
regenwald leben und eine amazonische Wirtschaft sweise verfolgen, die auf
einer komplexen Verknüpfung von Jagd, Fischfang, Sammeln und Landwirt-
schaft basiert, sowie der Mojeños Trinitarios, die vor allem die Überschwem-
mungswälder und -savannen bewohnen und ebenfalls die amazonische
Der Neue Extraktivismus Wirtschaft sweise verfolgen. Im Mitt elpunkt des TIPNIS-Konfl ikts und des in-digenen Marschs ging es um die territorialen Rechte der Yuracares, Chimanes und Mojeños Trinitarios: das Eigentumsrecht an ihrem Territorium, das eine vorherige Konsultation bei sie betreff enden staatlichen Eingriff en umfasst. Die Regierung Evo Morales beschloss eine Überlandstraße durch das TIPNIS-Ge-biet zu bauen, die die kleinen Städte Villa Tunari und San Ignacio de Moxos miteinander verbinden sollte1. Das Straßenbauprojekt wurde von der Regierung im Jahr 2007 beschlossen, ohne vorherige Verhandlungen mit oder Konsultationen der betroff enen Be-völkerung durchzuführen. Von da an verschlechterte sich das Verhältnis zwi-schen der Exekutive und der Vertretung der Amazonas-Indígenas zusehends. Im April 2010 stimmte das Parlament dem Kredit durch die brasilianische Entwicklungsbank BNDES2 für die Durchführung des Straßenbauprojekts zu und am Rande des Nationalparks (in der Siedlung Isinuta) tauchten Bauma-schinen auf. Daraufh in hielten die indigenen Vertreter_innen des TIPNIS ein territoriales Treff en in der Gemeinde San Pablo del Isiboro ab – ihr höchstes internes Entscheidungsgremium. Dort wurde die deutliche Entscheidung ge-troff en, dass die indigenen Völker des TIPNIS sich nicht gegen die Straße an sich stellen, jedoch dagegen, dass sie mitt en durch das Territorium führt und es so in zwei Teile zerschneidet.
Nach den hier aufgeführten Fakten könnte man glauben, es handle sich um ei- nen reinen Konfl ikt zwischen der Regierung und den indigenen Gemeinschaf-ten des TIPNIS. Bei dem Blick auf die Produktionslogik für das Territorium fällt jedoch zweierlei auf: Erstens handelt es sich hier um zwei unterschiedli-che Produktionslogiken, die zwei Entwicklungsmodellen entsprechen – mit unterschiedlichen sozialen Akteuren und ökonomischen Dynamiken unter-schiedlicher Größenordnung. Zweitens wird hier vom Staat der Wegebau als Be- 1 Eine Darstellung des indigenen Rechts auf vorherige Konsultation und der durchdie bolivianische Verfassung vorgesehenen institutionellen Verfahren fi ndet sich in: Paz 2012.
2 Die brasilianische Entwicklungsbank Banco Nacional de DesenvolvimentoEconômico e Social (BNDES) tätigt Investitionen in infrastrukturelle und extraktive Projekte. Sie tritt wirtschaft lich meist mit der Banco do Brasil im Rahmen einer Public Private Partnership auf.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika standteil der die Departamentos verbindenden Entwicklung präsentiert, ohne die Beziehungen der Machtgruppen innerhalb der Regierung von Evo Morales und den für den TIPNIS vorgesehenen Entwicklungsmodellen off enzulegen. Noch weniger wird erklärt, welche Rolle die Überlandstraße bei den Plänen der bolivianischen Regierung für die Erdölförderung einnimmt, sowie bei den von Brasilien angeführten Infrastrukturentwicklungsprojekten im Rahmen der Ini-tiative zur Regionalen Infrastrukturintegration Südamerikas (IIRSA).
Entwicklungslogiken und indigene Völker
Welche sind nun die zwei Formen von Produktions- bzw. Entwicklungslogik,
die im TIPNIS-Konfl ikt zur Debatt e stehen und die die ortsansässigen Akteu-
re mit ausmachen?
Einer Umweltstudie zufolge, die von März bis Juli 2011 von der nationalen Naturschutzbehörde SERNAP (einer Abteilung des Vizeministeriums für Bio-diversität) ausgearbeitet wurde3, gibt es im TIPNIS zwei Entwicklunglogi-ken bzw. -modelle, die unterschiedliche indigene Sichtweisen widerspiegeln und in jeweils anderer Beziehung zu dem von der Regierung vorgeschlage-nen Entwicklungsmodell stehen. Einerseits existiert die ökonomische Logik einer amazonischen Wirtschaft sweise der Yuracares, Chimanes und Mojeños Trinitarios, die kollektive Nutzungs-, Zugangs- und Verbrauchsrechte an den Ressourcen des Waldes beinhaltet. Diese indigene Wirtschaft sweise ist auf Subsistenz und Ernährungssicherheit ausgerichtet und mischt sich mit einer nachhaltigen Nutzung der Produkte des Waldes für kommerzielle Zwecke. An-dererseits gibt es die auf Koka-Anbau beruhende ökonomische Logik der an-dinen Siedler_innen, Quechuas und Aymaras, die im Rahmen des Programms zur Besiedlung des Tiefl andes durch die populistische Regierung ab 1952 in das Gebiet kamen: Hier erfolgen Nutzung, Zugang und Verbrauch der Pro-dukte des Waldes individuell. Dieses Wirtschaft smodell bezieht sich innerhalb des Wald-Kontextes stark auf ein höheres Gut – nämlich Land. Genauer: Wald, der in Land zum Koka-Anbau verwandelt wird. Ihre Produktion dient rein kommerziellen Zwecken, nämlich dem Verkauf von Koka-Blätt ern.
3 Die Studie wurde von der Umweltberatungsfi rma Rumbol – Sociedad y Naturalezadurchgeführt und von zehn Fachleuten sowie sieben Mitgliedern des indigenen technischen Teams des TIPNIS ausgearbeitet.
Der Neue Extraktivismus Seit 2001 ist der TIPNIS in drei Zonen unterteilt: Erstens eine Kernzone mit strengsten Schutz- und Erhaltungsaufl agen für die Biodiversität, die nur für wissenschaft liche Zwecke sowie nicht planmäßiges Jagen und Sammeln durch die indigenen Familien genutzt werden darf; zweitens eine Zone für die traditionelle Nutzung durch die indigene Wirtschaft sweise; dritt ens eine Zone der nachhaltigen Ressourcennutzung zur Umsetzung der Entwicklungspläne der indigenen Gemeinschaft en, die auf Nutzungsplänen beruhen für: a) Forst-wirtschaft , b) Krokodilsleder, c) Öko-Tourismus und d) Agroforstwirtschaft mit Wildkakao. Der Plan aus dem Jahr 2001verbietet kategorisch jedwede Öl-exploration oder -bohrung in dem Gebiet.
Die Entwicklungsmodelle der indigenen Gemeinschaft en zielen auf das Ge- meinwohl ab, auf den Wald und seinen Schutz. Obwohl sie die Familien an die Handelskreisläufe anbinden, gestatt et das auf gemeinsame Ressourcenverwer-tung ausgerichtete Produktionsmodell den indigenen Gemeinschaft en, das Territorium politisch zu kontrollieren. Nach Ansicht der Gemeinschaft en wäre gerade die politische Kontrolle über das Territorium vom Bau der Straße um-fassend betroff en. Diese würde durch die Kernzone des Gebiets verlaufen und deren Biodiversität gefährden; sie würde, wie es die Indigenen selbst formulie-ren, „das Gebiet gefährden, in dem das Leben des Territoriums erschaff en wird; im Herzen des TIPNIS entsteht der Regen, reproduzieren sich die Tiere und stehen unsere besten Bäume". Die Kernzone würde durch die Straße in zwei Teile zerschnitt en. Noch schlimmer aber wäre, dass die territoriale Kontrolle und Schutz verloren gingen, was bislang durch ihre schwere Zugänglichkeit verhindert wurde. In der Kernzone gibt es keine Ansiedlungen von Indigenen; diese liegen alle außerhalb, in der Zone der nachhaltigen Ressourcennutzung. Die von der Regierung vorgeschlagene Straße würde eine Schwächung für die politische Kontrolle des Territoriums bedeuten, weil sie Siedlungen mit sich bringen würde: andine Produzent_innen der Quechua und Aymara, die Koka anbauen, was einer Individualisierung und Parzellierung der Produkte des Waldes gleichkäme. Die Erfahrung, die die indigenen Gemeinschaft en des TIPNIS im Süden machten (Siedlungsgebiet polígono 7), war die einer kon-stanten und systematischen Schwächung ihrer politischen Kontrolle über das Territorium zugunsten der in das Gebiet einwandernden Koka-Produzent_in-nen. Umso mehr, da diese nun, wie die TIPNIS-Indigenen sagen, den Präsi-denten stellen. Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Nach welcher Logik funktioniert aber das Entwicklungsmodell in den Sied- lungen der Quechuas und Aymaras im Süden des TIPNIS? Die Siedler_in-nen wurden seit der national-populistischen Staatspolitik nach 1952 in den Amazonasgebieten angesiedelt. Teile der Quechuas und Aymaras zogen im Rahmen dieser Politik als Bauern in die Region der tropischen Yungas, um ihre Anbaumethoden zu erweitern und zu diversifi zieren. Fundamental für das Verständnis der Siedlungsaktivitäten der Koka-Produzent_innen im TIPNIS sind die Migrationswellen 1982 bis 1985 und 1986 bis 1989, die eng mit den Strukturanpassungsmaßnahmen und dem Übergang von einem nationalisti-schen zu einem deutlich neoliberaleren Staatsmodell zusammenhängen. Das von den Koka-Produzent_innen im Süden des TIPNIS verfolgte Ent- wicklungsmodell besteht in dem intensiven Vorantreiben der Agrargrenze: Entwaldung – die schnelle Umwandlung von tropischen Regenwaldgebieten in Parzellen für den Koka-Anbau. Durch die beiden Komponenten ihres Wirt-schaft shandelns – der individuelle Besitz von Produkten des Waldes und das Ziel der landwirtschaft lichen Produktion – unterscheidet sich ihr Entwick-lungsmodell stark von dem der indigenen TIPNIS-Gemeinschaft en. Es wird deutlich, dass das Straßenbauprojekt für die Koka-Bauern eine äußerst wichti-ge Rolle für ihr wirtschaft liches Fortkommen hat. Die Straße würde die Han-delsmöglichkeiten der Koka anbauenden Familien noch verbessern; darüber hinaus würde sie die gesamte Vorgebirgsachse der östlichen Anden-Kordillere strukturieren. Der Bau der Straße zwischen Villa Tunari und San Ignacio de Moxos, zusammen mit der Anwesenheit von Siedler_innen in den verschie-denen Regionen der tropischen Yungas im östlichen Andengebiet Boliviens, würde die Verschiebung der politischen Kontrolle des Gebiets zugunsten der andinen Siedler_innen noch verstärken. Die Quechua und Aymara, die in der Vergangenheit die territoriale Gliederung der Anden vertikal kontrollierten, verfolgen heute die Strategie, verschiedene ökologische Höhenformationen zu kontrollieren, und verknüpfen dies mit dem Besetzen verschiedener öko-nomischer Nischen und Handelskreisläufe. Das wirtschaft liche Ergebnis un-terscheidet sich deutlich von dem der früheren andinen Dorfgemeinschaft en (ayllus). Die Koka-Produzent_innen haben durch ihre Ansiedlung in der Provinz Chapare einen Ausweg aus der strukturellen Armut als Bauern in den Anden gefunden, den ihnen der Staat zuvor nicht aufzuzeigen vermochte. Dieser Fakt Der Neue Extraktivismus muss in die Analyse mit einfl ießen. Dennoch führen die Resultate des vor 30 Jahren begonnenen ökonomischen Prozesses zu einer neuen Lage, die eben-falls untersucht werden muss. Die Koka-Produzent_innen des TIPNIS kön-nen nicht mehr betrachtet werden wie vor 30 Jahren, da die wirtschaft lichen Veränderungen, zu denen sie beitrugen, auch ihre benachteiligte Situation in der bolivianischen Gesellschaft sstruktur verändert haben. Als bäuerliche Pro-duzent_innen sind sie Teil einer globalen Enklavenökonomie des Drogen-handels. Die Spezialisierung auf den Anbau von Koka-Pfl anzen in den 1980er Jahren hat sie in einen Handelskreislauf integriert, der über die Grenzen des Landes hinausgeht. Schon zu Anfang der neunziger Jahre wurden die Sied-lungsgebiete des TIPNIS von der Anti-Drogen-Behörde zur „roten Zone" erklärt, da die Koka-Monoproduktion auf den Vertrieb innerhalb der Drogen-handelsrouten ausgerichtet war.
Die Stellung als Enklavenökonomie, die den Gesetzen des Weltmarkts und der Drogenkorridore folgt, hat sich seitdem nicht verändert. Im November 2011 entdeckte die Anti-Drogen-Behörde eine Großproduktionsanlage für Kokain im Ort Santa Rosa am Río Isiboro, die Handelsbeziehungen des Ge-biets mit den kolumbianischen Drogenkartellen off enbarte. Der Handel mit Koka, der nicht dem traditionellen Gebrauch der Koka-Blätt er - kauen und die Verwendung für medizinische Zwecke – entspricht, drängt auf neue Land-wirtschaft sfl ächen vor, was ein Fortschreiten der Agrargrenze auf Kosten des Waldes bedeutet. Innerhalb der Kett e der Enklavenökonomien des Drogen-handels sind die Koka-Bauern Lieferant_innen der Rohware, das große Ge-schäft machen sie nicht; als Teil dieser Kett e treten sie jedoch als lokale Akteure auf, die Druck ausüben und darum kämpfen, Land für die landwirtschaft liche Nutzung zu erhalten. Anfang der 1990er Jahre umfasste das Anbaugebiet der Koka-Bauern im TIPNIS zehn bis 20 Hektar. Die Sammelstelle für Koka-Blät-ter in Isinuta war die größte in der gesamten Provinz Chapare. Heute wird eine wesentlich geringere Menge angebaut und es existiert ein System sozialer Kontrolle durch die Koka-Gewerkschaft , wodurch das schnelle Wachstum der landwirtschaft lichen Nutzfl ächen in der Region reguliert wird. Das System der sozialen Kontrolle war eine politische Reaktion der Koka-Gewerkschaft en in einem nationalen Kontext. Die Koka-Gewerkschaft en des TIPNIS gehören zur Ursprungsbasis von Präsident Morales. Die soziale Kontrolle soll eine Botschaft an die bolivianische Bevölkerung aussenden: Es Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika geht um den Versuch, die Regierung Morales von dem Ruf einer Koka-Bauern-Vertretung zu befreien. Doch auch so setzen sich die Prozesse der Unterwer-fung und des Voranschreitens der Agrargrenze im Namen des Koka-Anbaus im Süden des TIPNIS fort, die bereits die indigenen Gemeinschaft en in den Randgebieten erfassen4. Die Familien dieser indigenen Gemeinschaft en haben begonnen, zum Koka-Anbau überzugehen und sich innerhalb der Koka-Ge-werkschaft en zu organisieren5. Diese Gemeinschaft en demonstrieren heute für das Außerkraft setzen des TIPNIS-Schutzgesetzes (Gesetz Nr. 180) und für den Bau der Straße.
Entwicklung und die Regierungspolitik von Evo Morales
In welchem Zusammenhang stehen die Entwicklungsmodelle für den TIP-
NIS und die Entwicklungsstrategie der Regierung Morales? Wenngleich diese
sich auf der Grundlage der von den sozialen Bewegungen geprägten Oktober-
Agenda6 entwickelt hat – die neben der Abhaltung einer Verfassunggebenden
Versammlung ein wirtschaft liches Entwicklungsmodell der Verarbeitung von
Öl und Gas beinhaltete – vertieft e sie letztlich die traditionelle und hegemo-
niale Rolle des Staates: Förderung wirtschaft licher Strategien, die auf einem
Rohstoff exportierenden, extraktivistischen Modell basieren. Eine solche wirt-
schaft spolitische Ausrichtung hat mehrere Konsequenzen. Zwar werden ande-
re Entwicklungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen, und der 2006 vorgelegte
Regierungsplan geht von einer pluralen Perspektive ökonomischer Modelle
4 Im TIPNIS existieren 64 indigene Gemeinschaft en. Davon leben zehn innerhalb derSiedlungsgebiete und neun innerhalb der Einfl ussgebiete der Siedler_innen. Es lässt sich also sagen, dass 19 indigene Gemeinschaft en von der regionalen Wirtschaft sform des Koka-Anbaus beeinfl usst sind.
5 Eine Untersuchung von Sarela Paz aus dem Jahr 2006 ergab, dass die indigenenFamilien in den Randgebieten wegen der ökonomischen Vorteile zum Koka-Anbau übergehen; forstwirtschaft liche Aktivitäten (Holzeinschlag) werden aufgegeben, da die Einkünft e daraus niedriger sind (SERNAP 2006).
6 Die Oktober-Agenda stellte die Forderungen der städtischen und ländlichensozialen Bewegungen Boliviens vom Wasserkrieg 2000 bis zum Gaskrieg 2003 dar. Die Ziele beinhalteten die Abhaltung einer Verfassunggebenden Versammlung, die Eigenverarbeitung von Erdgas, die politische Vertretung jenseits des Parteienmonopols und die Verstaatlichung des Rohstoff abbaus.
Der Neue Extraktivismus aus, die der Staat unterstützen soll. Die bevorzugte Ausbeutung natürlicher Ressourcen und deren Rohexport als zentrale Einkommensquelle konzent-riert jedoch staatliche Maßnahmen auf die extraktivistischen Projekte. Diese stehen wieder im Vordergrund und werden oft als Regierungsangelegenheit dargestellt. Eine solche Ausrichtung der Wirtschaft spolitik hat natürlich die Unterordnung anderer Entwicklungsmodelle zur Folge, die sich entfalten dürfen oder sogar staatlich gefördert werden, solange sie den zentralen Plä-nen einer extraktivistischen Wirtschaft spolitik nicht im Wege stehen. Beim TIPNIS-Konfl ikt war jedoch genau das der Fall: indigene Bevölkerungsteile sind nicht mit den zentralen Plänen einer extraktivistischen Wirtschaft spolitik einverstanden.
Man könnte nun argumentieren, dass die gestiegenen Rohstoff exporte nicht nur die Vertiefung des extraktivistischen Modells und die unabänderliche Be-deutung von Bergbau, Gas- und Ölförderung für die bolivianische Wirtschaft unter Beweis stellen, sondern dass dem Staat dadurch auch neue Chancen höherer Einnahmen und möglicher Industrialisierungsprozesse eröff net wer-den, so wie es die sozialen Bewegungen in der Oktober-Agenda angestrebt hatt en. Die Regierung Morales verfolgt jedoch eine Strategie wirtschaft licher Entwicklung, die extraktivistischen Modellen den Vorrang gibt, sie zu Regie-rungspolitik macht, ohne wesentliche Industrialisierungstendenzen.
Im konkreten Fall des TIPNIS hat die Regierung Morales zwei Konzessi- onen für Erdölexploration und -bohrungen vergeben, unter Missachtung der Umweltaufl agen für Schutzgebiete sowie der durch Mitglieder des SERNAP und indigener Organisationen erarbeiteten Entscheidung von 2001, als die Umwidmung des TIPNIS statt fand und eine Ölförderung für das Gebiet aus-geschlossen wurde. Die zwei Konzessionen wurden im Jahr 2007 vergeben, eine für den Block Sécure an Petroandina und die andere für den Block Ich-oa an Petrobras (Consultora Rumbol/SERNAP 2011). Roberto Fernández (2011) weist in seiner Studie über den Erdölsektor in Bolivien darauf hin, dass die Regierung Morales sich der Maxime „Exportieren oder sterben" annähert und daher dringend neue Blöcke für die Förderung freigeben will. Es steht au-ßer Frage, dass die Straßenverbindung Villa Tunari – San Ignacio de Moxos der Erdölförderung beider Unternehmen dienlich wäre. Im Verständnis der Erdöl-konzerne ist bei den Förderprojekten die Investition in Straßen Angelegenheit der Staaten. Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Die Bereitstellung von Infrastruktur, damit die exportorientierten Extrak- tionsmodelle unter relativ günstigen Bedingungen funktionieren können, gehört zur Logik des Regierungshandelns von Staaten, die auf eine extrakti-vistische Exportwirtschaft setzen. Wenn man von extraktivistischen Modellen spricht, sollte man jedoch nicht nur an die Extraktion von Rohstoff en denken, sondern mit Gudynas (2009) ebenso an die agrarexportierenden Modelle, die auf Monokulturen und intensiver Nutzung des Bodens basieren. Auf re-gionaler Ebene ist festzustellen, dass die Handelskreisläufe von Primärgütern, wozu auch agroindustrielle Produkte gehören, immer mehr auf den Weltmarkt ausgerichtet werden. Die Situation wird nicht besser; in der beginnenden De-kade richtet sich die Angebotsstruktur Südamerikas immer mehr auf die chi-nesischen Märkte aus. Die steigende Nachfrage Chinas nach Mineralien führt dazu, dass Südamerika zum Ort strategischer Interessen wird; das IIRSA-Pro-jekt gewinnt dabei insbesondere an Bedeutung wegen der dazu gehörenden interozeanischen Verbindung.
Die größte Herausforderung dieser Verbindung besteht in der Überquerung der Anden; für Staaten wie Brasilien, die ausschließlich über Atlantikküsten verfügen, hat eine solche Atlantik-Pazifi k-Verbindung strategischen Wert. Gleichzeitig will Brasilien auch das Amazonasgebiet durchqueren; die Regi-onen des Bergregenwalds und des tropischen Regenwalds nehmen dadurch eine doppelte Funktion ein: Erstens werden dabei natürliche geografi sche Grenzen beseitigt, die vor 30 Jahren kaum zugänglich waren; zweitens handelt es sich um Regionen mit fossilen Ressourcen. Der Bau von Straßen durch die östlichen Yungas dient nicht nur der interozeanischen Verbindung, er eröff -net auch die Möglichkeit, fossile Energiequellen in der subandinen Zone zu erschließen. Daran hat Petrobras ein Interesse. In naher Zukunft kommt Peru und Bolivien hier eine besondere Bedeutung zu, da beide Länder sowohl im Bereich Bergbau als auch im Bereich Erdöl und Gas Rohstoff exporte betrei-ben. Während Ecuador in der subandinen Zone bereits umfassend entwickelte Erdölprojekte hat, bieten sich hier für Bolivien und Peru noch Entwicklungs-möglichkeiten.
Die Straßenverbindung zwischen Villa Tunari und San Ignacio de Moxos und ihre strategische Bedeutung für die Region muss in dem genannten Kon-text betrachtet werden: Sie ist Teil des Vorstoßes der Beseitigung natürlicher Grenzen des Bergregenwalds, mit denen ein Zugang zu den Anden und zum Der Neue Extraktivismus Pazifi kraum geschaff en werden soll. Sie eröff net jedoch auch die Möglichkeit der Förderung fossiler Ressourcen in der subandinen Zone. Nicht umsonst wurden an Petroandina und Petrobras Konzessionen vergeben. Brasilien läuft mit seinen Energieprojekten bis 2020 Gefahr, ein Energiedefi zit zu bekom-men, daher ist für das Land die Exploration neuer Erdölfelder unabdingbar. Umso mehr, wenn die notwendige Infrastruktur für eine Förderung schon vor-handen ist. Die interozeanische Verbindung bringt auch Vorteile für die sich rasch entwickelnde Agroindustrie in den brasilianischen Bundesstaaten Acre, Rondônia und Mato Grosso do Norte, die an Bolivien und Peru angrenzen. Die Straßenverbindung durch die östlichen Yungas bietet auch hier eine Mög-lichkeit, die Kosten für den Transport ihrer Produkte an die Pazifi kküste zu senken. Gewiss ist die Situation innerhalb des auf Rohstoff exporte ausgerichteten extraktivistischen Modells nicht für alle Länder gleich. Obwohl, wie die Untersuchungen von Gudynas (2009), Acosta (2011), Svampa (2009) oder Verdum (2010) zeigen, Südamerika insgesamt seine jahrhundertealte Rolle als Rohstoffl ieferant für den Weltmarkt weiterhin kon- solidiert, gibt es innerhalb des Kontinents Länder wie Bolivien, die wenig in-dustrialisiert sind, während andere wie Brasilien ihre Rohstoff exportstruktur mit einem beachtlichen Industriesektor verknüpfen, wodurch ihre geopoliti-sche Rolle gestärkt wird7. Dies erklärt, warum die brasilianische Entwicklungs-bank BNDES, die als öff entlich-privates Konsortium in infrastrukturelle und extraktive Projekte investiert, den Kredit für die Straße im TIPNIS vergab und die brasilianische Firma OAS den Bau ausführen soll.
Doch kehren wir zu der Ausgangsfrage zurück, inwiefern die Entwicklungs- modelle für den TIPNIS mit der Entwicklungsstrategie der Regierung Mora-les zusammenhängen sowie mit der regionalen Wirtschaft sdynamik und ihren geopolitischen Herausforderungen für Südamerika.
Es ist klar, dass das indigene, auf einer amazonischen Wirtschaft sweise be- ruhende Modell in Verbindung mit einer nachhaltigen Nutzung und Verwer- 7 Ricardo Verdum zufolge ist in Südamerika Brasilien das am weitesten industrialisierte Land, gefolgt von Argentinien und Uruguay. Chile dagegen ähnelt bei seiner Exportstruktur eher Peru und Bolivien, mit über 70 Prozent Bergbauexporten (Verdum 2010).
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika tung der Ressourcen – so wie in den Nutzungsplänen der Indigenen und von SERNAP vorgesehen – mit den Entwicklungsstrategien der Regierung Mora-les kollidiert. Diese macht sich und die von ihr aufgelegten Sozialprogramme immer mehr von den Einkünft en aus den Rohstoff exporten abhängig8. Die zweite Amtszeit von Evo Morales zeigt ganz klar eine Wende bei der Wirtschaft spolitik: Das auf Rohstoff exporte ausgerichte extraktivistische Modell ist zur Staatsdoktrin geworden – niemand darf es in Frage oder sich ihm gar in den Weg stellen. Die Indigenen des TIPNIS haben sich mit ihrem Widerstand gegen den Straßenverlauf durch die Kernzone ihres Territoriums und die Teilung des Schutzgebiets gegen die Pläne der extraktivistischen Re-gierungspolitik und die Infrastrukturprojekte zur Zeit- und Kostenreduktion für die extraktive Rohexportwirtschaft gestellt. Es wird politisch gegen die von den indigenen Gemeinschaft en des TIPNIS vorgeschlagenen Entwicklungs-modelle vorgegangen. Die Pläne für Öko-Tourismus, Forstwirtschaft und Ver-arbeitung von Krokodilsleder wurden mit dem Argument der Unantastbarkeit des TIPNIS abgelehnt; die Projekte der Koka-Produzent_innen im TIPNIS hingegen laufen unvermindert weiter. Das Entwicklungsmodell der Koka-Bauern lässt sich sogar sehr gut mit den auf Rohexporte ausgerichteten extraktiven Aktivitäten der Regierung in Ein-klang bringen. Tatsächlich reproduziert diese Enklave für die Produktion der Rohware des regionalen Kokaingeschäft s die Agrarindustrie in weiten Teilen, die als Teil des extraktivistischen Modells bereits benannt wurde. Erstens fi ndet eine Monoproduktion des zu exportierenden Guts statt (Koka-Blätt er/Koka-inpaste); zweitens erfolgt eine intensive Landnutzung auf Kosten des Waldes, die irreversible Schäden für die biologische Vielfalt im südlichen Gebiet des TIPNIS mit sich bringt; und dritt ens wird das landwirtschaft liche Produkt (Koka-Blätt er) ausschließlich für die Weltmarktnachfrage hergestellt. Der ein-zige große Unterschied zu den extraktiven agroindustriellen Modellen besteht darin, dass die Monoproduktion nicht in den Händen von Unternehmen liegt, die das Land und den Produktionsprozess kontrollieren, sondern von Bauern, 8 Zu den durch Erdgas- und Erdöleinkünft e fi nanzierten Sozialprogrammen gehörender Bono Juancito Pinto für Grundschüler_innen an staatlichen Schulen, der Bono Juana Azurduy de Padilla für schwangere und stillende Frauen sowie die Renta Dignidad für alte Menschen in den Städten und auf dem Land. Der Neue Extraktivismus die ihre Produktion durch die jährliche Ausdehnung der Agrargrenzen zu ver-bessern suchen. Eine Straßenverbindung hat also eine strategische Funktion für das Vordringen der Agrargrenze; und aus dem Verhalten der Siedler_in-nen in dem Gebiet lässt sich schließen, dass die Fläche für den Koka-Anbau zunehmend knapper wird. Die Unterwerfung weiterer Gebiete des indige-nen TIPNIS-Territoriums zur landwirtschaft lichen Nutzung erscheint so als nützliche und notwendige Strategie für die Produktion und den Verkauf des Rohprodukts für Kokain. Ein solches Produktionsmodell ist relativ gut mit der Exploration und Ausbeutung von Erdöl zu vereinbaren.
Literatur
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Anmerkung
Der Beitrag wurde aus dem Spanischen übersetzt.
Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Hindernisse der Yasuní-ITT Eine Interpretation aus der Perspektive der politischen Ökonomie Alberto Acosta „Die gesellschaft lichen Verhältnisse sind aber keine starren, unbeweglichen Formen. Wir haben gesehen, wie sie im Laufe der Zeiten vielfache Veränderungen aufwiesen, wie sie einem ewigen Wechsel unterworfen sind, in dem sich eben der menschliche Kulturfortschritt , die Entwicklung, Bahn bricht."Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie Mit Traditionen und Mythen aufzuräumen, wird immer ein schwieriges Un-terfangen sein. Die Auff orderung, doch realistisch zu sein, führt zum Aufh al-ten von Veränderungen. Die Inhaber_innen von Privilegien, deren Verlust zu befürchten steht, stellen sich ihnen entgegen. Und immer wird es Opportu-nist_innen geben, die sich auf den Pragmatismus berufen, um den Wandel zu verhindern. Daher stößt die Idee, gegen eine internationale Zahlung kein Erd-öl aus den Feldern Isphingo, Tambococha und Tiputini (ITT ) zu fördern, auf Erstaunen und vielerlei Widerstände. In einer global vom Erdöl abhängigen Wirschaft vorzuschlagen, kein Öl zu fördern, erscheint vollkommen verrückt. Umso mehr in einem unterentwickelten Land, das von seinen Erdöleinnah-men abhängig ist. Das Überraschende an dieser Idee ist jedoch, dass sie An-hänger_innen gefunden und an Einfl uss gewonnen hat.
Trotz seiner anhaltenden Zweifel waren die Zustimmung von Präsident Rafael Correa zu dem Projekt und seine nachfolgende Unterstützung wich-tig. Ihm ist es zu verdanken, dass die Möglichkeit, kein Erdöl im ITT auszubeuten, zur Regierungspolitik wurde und die (schon lange betriebene) Option einer Förderung in den Hintergrund trat. Den Erdöl fördernden Un- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika ternehmen, die darauf warteten, sich auf die 850 Millionen Barrel Rohöl unter der ITT -Region stürzen zu können, wurde Einhalt geboten. Von demselben Präsidenten Correa gehen jedoch aufgrund seiner Zweifel und wiederholten inkonsistenten und inkohärenten Äußerungen auch die größten Gefahren für die Yasuní-ITT -Initiative aus. Dadurch bleibt der von der Erdölindustrie ausge- übte Druck weiterhin stark. Ein Vorschlag aus dem Widerstand
Interessant an der Initiative ist, dass sie sich Schritt für Schritt innerhalb der
Zivilgesellschaft herausgebildet hatt e, lange schon bevor sie die Zustimmung
durch Präsident Correa erfuhr. Diese Idee, die auf Regierungsebene im Januar
2007 durch den Minister für Energie und Bergbau vorgestellt wurde, hat weder
Besitzer_innen noch Geschäft sführer_innen. Es handelt sich um einen kollek-
tiv erarbeiteten Entwurf. Die Ur-Idee zum Stopp der Erdölförderung war mit
Sicherheit in den Köpfen derer entstanden, die unter den Folgen der Erdölaus-
beutung im Amazonasgebiet zu leiden hatt en.
Der Widerstand der Amazonas-Gemeinschaft en wuchs immer weiter, bis er in eine juristische Auseinandersetzung mit internationaler Tragweite mündete. Dieser „Jahrhundert-Prozess" der indigenen Gemeinschaft en und Siedler_in-nen, die von den Erdölförderaktivitäten des Chevron-Texaco-Konzerns be-troff en sind, ist bekannt. Der Prozess hat – unabhängig von seinem Ausgang1 – durch die Klage gegen einen der mächtigsten Ölkonzerne der Welt einen Prä-zedenzfall geschaff en. Der Rechtsstreit ist über das Amazonasgebiet hinaus von Bedeutung, es geht um mehr als nur die von Texaco zu bezahlenden Schäden. Diese Klage macht die Bestrafung und Beendigung der Umweltverschmutzun-gen möglich, die weltweit durch die Erdölkonzerne verursacht werden.
Daraus entwickelte sich, schritt weise und durch die in einem harten und lan- gen Widerstand gegen die Ölförderung erlangten Erfahrungen, die Idee eines Erdöl-Moratoriums für das südliche Zentrum des ecuadorianischen Amazo-nasgebiets. Die Forderung nach einem Moratorium für die weitere territoriale Ausdeh- nung der Erdölförderung wurde in verschiedenen Räumen und Foren erho- 1 Im Januar 2012 verurteilte ein ecuadorianisches Gericht den Konzern zur Zahlungvon 18 Milliarden US-Dollar [Anm. d. Hrsg.] Der Neue Extraktivismus ben; im Jahr 2000 wurde sie in dem von mehreren Autoren verfassten Buch El Ecuador post-petrolero (Ecuador nach dem Erdöl) aufgegriff en. Drei Jahre später wurde die Idee von verschiedenen Umweltstift ungen offi Umweltministerium herangetragen. Kurz zuvor, im Jahr 2001, hatt en mit den Auslandsschulden befasste Gruppen ein historisches Abkommen mit den in-ternationalen Gläubigern vorgeschlagen, mit dem die Schulden erlassen und im Gegenzug der Schutz des Amazonasgebiets festgelegt werden sollte. Der Vorschlag basiert auf dem Konzept der ökologischen Schulden, bei dem die reichen Länder die Schuldner sind. In einem anderen Teil des Amazonasgebiets, in der Provinz Pastaza, gelang es durch den Widerstand der Kichwa-Gemeinde Sarayaku Aktivitäten des ar-gentinischen Erdölkonzerns Compañía General de Combustibles (CGC) im Block 23 des Erdölkatasters zu verhindern. Das stellte einen großen Erfolg für die kleine organisierte Gemeinschaft dar, vor allem wenn man bedenkt, dass das Unternehmen bewaff nete Unterstützung durch den Staat erhielt. Die Ge-meinde, die durch internationale Solidaritätsaktionen unterstützt wurde, er-reichte im Juli 2004 eine historische Entscheidung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, als diese eine Reihe vorübergehender Maß-nahmen für die indigene Gruppe der Sarayaku forderte. Der Beschluss wurde in der ersten Jahreshälft e 2007 schließlich von der ecuadorianischen Regie-rung akzeptiert.
Wenig später gerieten die Sarayaku jedoch wieder in Gefahr. Bei der Neuver- handlung des Vertrags über Block 10 des Erdölkatasters, zwischen der Regierung von Präsident Correa und dem Ölkonzern AGIP im November 2010, übertru-gen die Behörden dem Unternehmen einen Teil von Block 23, in dem Gebiete mehrerer indigener Gruppen der Amazonasregion liegen. Auch das Gebiet von Sarayaku befi ndet sich in diesem erweiterten Block 10. Diese Umstrukturierung des Blocks wurde erneut hinter dem Rücken der betroff enen indigenen Ethnien und Gemeinden vorgenommen, ohne sie vorher zu konsultieren oder um Er-laubnis zu fragen – trotz der zu erwartenden Auswirkungen der Entscheidung auf ihr Leben und ihre Territorien. Gleichermaßen besorgniserregend war das Ausschreibungsverfahren vom Juni 2011 um den „Armadillo-Block", in dem nachweislich nicht kontaktierte Gruppen leben – laut Verfassung von 2008 ein Grund, jede Form extraktivistischer Tätigkeiten zu verbieten.
All diese Vorschläge und Auseinandersetzungen bereiteten den Boden Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika dafür, dass die Idee eines Erdöl-Moratoriums mit Nachdruck auf der politi-schen Bühne des Landes eingebracht werden konnte. In einem historischen Moment, als sich die langen und schwierigen Kämpfe verschiedener Berei-che der Gesellschaft festigten, wurde sie Teil des Wahlbündnisses Movimiento País (heute Alianza País) für den Zeitraum 2007 bis 2011, das 2006 erarbeitet worden war. Inzwischen jedoch verliert die Idee wieder schnell an Schlagkraft , plant die Regierung doch, die Erdölförderung auf das südliche Zentrum des Amazonasgebiets auszudehnen.
Der damalige Vorschlag beinhaltete nicht nur, die territoriale Ausdehnung der Erdölförderung zu stoppen. Es ging auch um die Optimierung bereits be-stehender Projekte, ohne dabei weitere ökologische und soziale Schäden zu verursachen. Es sollte der größtmögliche Vorteil für das Land aus jedem ein-zelnen Barrel Öl gezogen werden, das gefördert, raffi niert, transportiert und verkauft wurde, anstatt das Fördervolumen zu maximieren.
Vom Erdöl-Moratorium zu einem neuen Lebensstil
Aufgrund all der erwähnten Forderungen wurde im Juni 2005 vorgeschlagen,
das Erdöl im Nationalpark Yasuní nicht zu fördern. Der Vorschlag war Be-
standteil des Plädoyers für ein umfassendes Erdöl-Moratorium in dem Posi-
tionspapier von Oilwatch Un llamado ecológico para la conservación, el clima y
los derechos
(„Ein ökologischer Aufr uf für den Schutz, das Klima und die Rechte"),
das bei dem ersten Treff en der Expertengruppe zu Schutzgebieten im italieni-
schen Montecatini formuliert wurde. Danach fand er auch Eingang in das von
Oilwatch 2006 herausgegebene Buch Asalto al paraíso: empresas petroleras en
áreas protegidas
( „Angriff auf das Paradies: Erdölkonzerne in Schutzgebieten").
Die wichtigsten Punkte der Initiative für die Nicht-Förderung des Öls waren
also schon lange vor dem Amtsantritt von Rafael Correa formuliert worden.
-Initiative stützt sich auf vier Grundpfeiler: 1) Schutz einer weltweit unvergleichlichen biologischen Vielfalt – der bislang größten durch Wissenschaft ler_innen nachgewiesenen, 2) Schutz des Territoriums und so-mit des Fortbestands indigener Gruppen in freiwilliger Isolation, 3) weltweiter Klimaschutz durch Nicht-Förderung einer großen Menge von Erdöl, wodurch eine Emission von 410 Millionen Tonnen CO verhindert wird, 4) ein erster Schritt in Richtung einer Post-Erdöl-Transition in Ecuador als Vorbild für an-deren Regionen. Als fünft er Pfeiler ließe sich noch die Möglichkeit hinzufügen, Der Neue Extraktivismus dass die Menschheit kollektiv nach konkreten Auswegen aus den gravierenden weltweiten Problemen sucht, die aus den menschengemachten klimatischen Veränderungen, besonders verschärft in der jüngsten Phase weltweiter Kapi-talexpansion, entstehen.
Als Ausgleich dafür erwartet Ecuador einen fi nanziellen Beitrag der interna- tionalen Gemeinschaft , die ihre gemeinsame und diff erenzierte Verantwort-lichkeit wahrnehmen muss, abhängig vom Grad der Umweltzerstörungen, die durch die jeweiligen Gesellschaft en verursacht wurden, vor allem durch die wohlhabendsten. Es geht dabei nicht um eine einfache Entschädigung für die weitere Durchsetzung des strukturalistischen Modells (wie es Präsident Cor-rea bisweilen zu verstehen scheint). Die Initiative ist vielmehr ein Schritt hin zum guten Leben" (buen vivir oder sumak kawsay), das keinen simplen Vor-schlag zu alternativer Entwicklung darstellt, sondern eine Alternative zu Ent-wicklung.
Durch die Initiative wird ein tiefgreifender Wandel in den Beziehungen aller Bevölkerungen der Welt zur Natur angestoßen; sie ermöglicht neue globale, juristische Instanzen für Umweltfragen aufzubauen, gestützt auf das bereits erwähnte Prinzip einer gemeinsamen und diff erenzierten Verantwortlichkeit: Die am weitesten entwickelten Staaten, die in höherem Maße für die Zerstö-rung der Umwelt verantwortlich sind, müssen auch deutlich mehr zur Lösung der globalen Umweltprobleme beitragen. Die Logik der internationalen Zu-sammenarbeit bedarf aus dieser neuen Perspektive ebenfalls einer grundlegen-den Neuordnung: Es muss absolut klar sein, dass die erwarteten fi nanziellen Beiträge nicht aus der fälschlich so bezeichneten Entwicklungshilfe gezahlt werden dürfen.
Letzten Endes eröff net der Vorschlag den Weg zu einer anderen Form, menschliches Leben auf der Erde zu organisieren, nicht nur in Ecuador. Hier jedoch muss er als unerlässlicher Schritt zur strukturellen Transformation des extraktivistischen Modells sowie des Energieverbrauchs verstanden werden.
Die Initiative stellt den Versuch dar, zu einer Post-Erdöl-Ökonomie überzu- gehen, mit dem Ziel, die Atmosphäre mit weniger CO zu belasten. Es geht um die Umsetzung der Kritik an dem als „fossil" zu bezeichnenden Energieregime. Dies zwingt uns zu einem Umsteuern „ in Richtung eines solaren Energiere-gimes, das auf der Nutzung der Strahlenenergie der Sonne beruht" (Altvater). Die Vorstellungen von dieser „Solar-Ökonomie" – bei denen es um die De- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika zentralisierung und Regionalisierung der Energieerzeugung geht – würden in dieselbe Richtung gehen wie das „gute Leben".
Das „gute Leben" kann also eine Platt form sein, um Lösungsvorschläge (man beachte den Plural) zu diskutieren und anzuwenden: für die verheeren-den Folgen des Klimawandels auf globaler Ebene, wachsende Marginalisie-rung und gesellschaft liche Gewalt. Die Verwirklichung des „guten Lebens", als Teil durch und durch demokratischer Prozesse, kann also sogar dabei helfen, globale Antworten auf die Probleme der Menschheit zu fi nden.
Der schwere Weg einer kühnen Initiative
Der Weg, den dieser Vorschlag nahm, seit er öff entlich diskutiert wird, gleicht
einer Berg- und Talfahrt. Fortschritt e und Rückschläge, Siege und Gegenreak-
tionen, Beifall und Kritik wechselten einander ab. Das Interessante – wahrhaft
Interessante – war, dass diese (für einige) wahnwitzige Idee tatsächlich Anklang
fand. Schon kurz nach der öff entlichen Präsentation der Initiative schnellte die
Zahl der Mut machenden Stimmen in die Höhe, im Ausland noch mehr als
in Ecuador selbst. Die Möglichkeit, etwas vorher scheinbar Unmögliches zu
schaff en, wurde in verschiedenen Ländern auf gesellschaft licher, parlamenta-
rischer und Regierungsebene diskutiert. Das positive Echo vervielfachte sich
schnell, handelte es sich doch um eine reale Möglichkeit, der globalen Erder-
wärmung zu begegnen.
Die Entwicklung in Ecuador war äußerst ambivalent. Zunächst kollidierte der Vorschlag des Ministers für Energie und Bergbau, das Erdöl im Boden zu belassen, mit der Entschlossenheit des leitenden Managers des staatlichen Erdölkonzerns Petroecuador, der das Öl so schnell wie möglich fördern wollte. Hinter dem Rücken des Ministers, der dem Direktorium von Petroecuador vor-saß, unterzeichnete dieser Beamte sogar verpfl ichtende Verträge mit verschie-denen ausländischen Unternehmen: mit den Staatskonzernen Chiles (ENAP) und Chinas (SINOPEC), sowie mit dem halbstaatlichen brasilianischen Kon-zern PETROBRA S. Es war ihm gleichgültig, ob er sich dabei über das Kohlen- wasserstoff gesetz (Ley de Hidrocarburos) hinwegsetzte. Diese erste Auseinandersetzung wurde am 31. März 2007 durch die In- tervention Präsident Correas im Direktorium von Petroecuador beendet. Es wurde konkret beschlossen, das Öl möglichst im Boden zu belassen, sofern die Internationale Gemeinschaft wenigstens für die Hälft e des Betrags aufk om- Der Neue Extraktivismus men würde, der bei der Ausbeutung der Vorkommen erzielt werden würde. Für den Fall, dass die Initiative nicht erfolgreich sein würde, wurde als zweite Möglichkeit die Förderung des Erdöls vorgesehen. Seitdem besteht der Streit zwischen diesen zwei Optionen in wechselnder Intensität latent fort. Es geht dabei um zwei unterschiedliche Standpunkte zur Erdölförderung und zur Ent-wicklung überhaupt.
Am 18. April 2007 verkündete die ecuadorianische Regierung durch ih- ren Präsidenten und auf Initiative des Ministers für Energie und Bergbau die „Politik zum Schutz der Völker in freiwilliger Isolation". Am 5. Juni wurde die ITT -Initiative offi ziell im Präsidentenpalast vorgestellt und am 14. Juni umriss der Minister für Energie und Bergbau die Strategie für den Energiesektor im Energieplan 2007-2011. Dort wurden die beiden Optionen in Bezug auf ITT dargestellt. In dem Plan wurden der Inhalt und die Tragweite der Initiative zur Belassung des Erdöls im Boden genau erklärt.
Es folgte eine Etappe des Tauziehens, die Initiative erlebte Sternstunden und Momente wachsender Skepsis. Präsident Correa erntete bei der Vorstellung der Idee, das Amazonasgebiet zu schützen, um größere globale Auswirkungen für die Umwelt zu verhindern, Applaus von der UNO, der OPEC, dem Welt-sozialforum und auf vielen anderen internationalen Gipfeln.
Besonders hinzuweisen ist auch auf die frühe Unterstützung der Initiative durch Deutschland. Im Juni 2008 sprachen sich Vertreter_innen aller Fraktio-nen des deutschen Bundestags öff entlich für die ITT -Initiative aus und forderten die Bundesregierung zu entschiedener Unterstützung auf. Diese Positionierung öff nete viele Türen. Um so mehr erstaunte die Entscheidung des Ministers für wirtschaft liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, vom Septem-ber 2010, die einen Tiefschlag für die Initiative bedeutete. Niebels Entschei-dung, die Initiative nicht zu unterstützen, verringerte weltweit die Möglichkeit wirksam um Unterstützung zu werben und Förderzusagen zu bekommen, da viele potenzielle Geber_innen das deutsche Engagement für unumstößlich ge-halten hatt en. Diese Entscheidung schien, zumindest zeitweise, dem Geiz eines Krämers zu entsprechen und nicht der Größe eines Staatsmannes.
Gleichzeitig wurde jedoch parallel weiterhin die Möglichkeit verfolgt, zu- mindest einen Teil des im ITT -Gebiet gelagerten Erdöls zu fördern. Diese Möglichkeit, die Vorkommen von Tiputini und sogar von Tambococha auszu-beuten, ist auf höherer Regierungsebene bis heute präsent. Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Das Projekt zur Nicht-Förderung des Erdöls begann sich wieder zu konso- lidieren, als im Juli 2008 eine neue Verhandlungskommission zusammentrat. Der Schritt stellte die Überwindung einer recht schwierigen Etappe ohne prak-tische Entscheidungen dar. Die neue Kommission formulierte in einem kon-kreten Programm den Willen, das Erdöl der ITT -Region nicht auszubeuten. Es wurden Kampagnenaktivitäten erarbeitet und durchgeführt, vor allem im Ausland, auch dank der fi nanziellen Unterstützung durch die deutsche GTZ und die Technische Entwicklungszusammenarbeit Spaniens. Einige Monate darauf, im Dezember 2008, wurde die Initiative durch die Er- nennung eines dem Anliegen verpfl ichteten Außenministers deutlich gestärkt. Später, im Februar 2009, wurde schließlich ein unbefristeter Zeitrahmen für die Akquise der erforderlichen Mitt el festgelegt und der Außenminister mit der Fortführung der Aktivitäten betraut. Die Entscheidung für diesen un-befristeten Zeitraum war von besonderer Bedeutung, da sie die permanente Unsicherheit durch die vom Präsidenten immer wieder neu ausgegebenen unvorhersehbaren Fristen beendete. Und die Initiative benötigte für ihre Ent-wicklung vor allem Raum und Zeit.
Im Jahr 2010 formulierte die ecuadorianische Regierung schließlich, wel- chem Zweck die Renditen aus dem Treuhandfonds dienen sollten, der für die Nicht-Ausbeutung des ITT -Gebiets eingerichtet wurde und der von der UNO kontrolliert werden soll. Es wurden fünf Ziele festgehalten: Transformation des Energiemodells durch Entwicklung des Potenzials der in Ecuador verfügbaren alternativen Energiequellen, Bewahrung der Schutzgebiete, Wiederauff ors-tung, nachhaltige soziale Entwicklung insbesondere in der Amazonasregion sowie Investitionen in technologische Forschung.
Bei den Untersuchungen zur Abschätzung der durch diesen Vorschlag im Vergleich zur Erdöl-Förderung erwarteten Gewinne, stellten sich ermutigende Ergebnisse ein. Selbst wenn man die enormen ökologischen und sozialen Kos-ten der Erdölförderung und die großen Vorteile, die Ecuador aus der Umset-zung dieses revolutionären Vorschlags entstehen würden, außer acht lässt, ist die Option der Nicht-Förderung einträglicher als die Ausbeutung. Mehr noch, es würde ein Szenario entstehen, von dem (fast) alle profi tieren, Ecuador wie der Rest der Internationalen Gemeinschaft .
Die von der Regierung nach der Bildung der neuen Kommission initiierten/ ausgeführten Tätigkeiten wurden positiv aufgenommen. Die Tragfähigkeit des Der Neue Extraktivismus Vorschlags schien in greifb are Nähe gerückt zu sein. Und die internationalen Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Mehrere Länder begannen ernsthaf-tes Interesse zu signalisieren.
Auch in der Zivilgesellschaft entwickelte sich eine interessante Debatt e, die immer mehr an Intensität und Tiefe gewann. Es wurden diverse Dokumente und Beiträge aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft eingebracht, so-wohl in Ecuador als auch im Ausland. Dank dieser Debatt e gelang es, über den ursprünglichen Vorschlag von Entschädigungen oder internationalen Spenden noch hinauszugehen und statt dessen die Idee internationaler Beiträge zu ent-werfen, die auf der gemeinsamen, aber diff erenzierten Verantwortlichkeit als Grundprinzip globaler Umweltgerechtigkeit basiert. Die Diskussion brachte auch zu Tage, dass es viele verschiedene Finanzierungsoptionen gab.
Eine im eigenen Erfolg gefangene Initiative
Als das Projekt deutliche Anzeichen für einen Erfolg zeigte, versetzte ihm aus-
gerechnet Präsident Correa einen schweren Schlag. Obwohl er als einziger Re-
gierungschef der Welt über einen konkreten bahnbrechenden Vorschlag zur
Bekämpfung der Klimaerwärmung verfügte, blieb er ohne nachvollziehbaren
Grund der im Dezember 2009 in Kopenhagen abgehaltenen UN-Klimakon-
ferenz COP-15 fern. Zudem änderte er, nachdem er seine Vollmacht für eine
Unterschrift unter den internationalen Treuhandfonds-Vertrag auf dem Gipfel
bereits gegeben hatt e, im letzten Moment seine Meinung. Tage später, Anfang
Januar 2010, gab er eine verfehlte Erklärung ab, mit der er selbst die möglichen
Geber_innen des Yasuní-ITT
-Fonds angriff sowie die Aufl ösung der Verhand- lungskommission und sogar den Rücktritt seines Außenministers auslöste.
In der Folge starteten die vermeintlich ruhigen Repräsentant_innen und Winkeladvokat_innen der Ölkonzerne eine groß angelegte Desinformati-ons- und Verleumdungskampagne gegen die Initiative. Die Entgleisung von Präsident Correa hatt e internationale Wirkung. Er hatt e – bewusst oder un-bewusst – die Glaubwürdigkeit der Initiative beschädigt und ihren Fortgang ausgebremst, was negativ auf die revolutionäre Idee zurückfi el.
Paradoxerweise führten die Äußerungen des Präsidenten und die dadurch ausgelösten Reaktionen dazu, dass in Ecuador viele Menschen erstmals von der Initiative erfuhren. Die unterstützende Haltung der Bevölkerung stellte einen Warnruf dar.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Die neue Verhandlungskommission war nicht mehr so gewichtig und profi - liert wie die vorherige. Die mit der Leitung der internationalen Verhandlungen betraute Person, Ivonne Baki, verfügt über keinerlei Erfahrungen im Umwelt-bereich und hat zudem eine umstritt ene politische Vergangenheit. Sie soll die Interessen von Texaco verteidigt haben und war eine große Fürsprecherin des Freihandelsvertrags mit den USA, der aufgrund der starken Proteste der Be-völkerung nicht zustande kam. Ende 2011 präsentierte Baki eine Liste mög-licher Geldgeber_innen, die für eine Summe von 116 Millionen US-Dollar aufk ommen würden, von denen jedoch weniger als 2,5 Prozent in eff ektiven Zahlungen bestanden. Die Liste enthält sogar einen Beitrag der deutschen Bundesregierung in Höhe von knapp 47 Millionen US-Dollar, der ausdrück-lich nicht für den Yasuní-ITT -Fonds, sondern für andere Projekte im Ama- zonasgebiet vorgesehen ist. Ein weiterer Betrag von 50 Millionen US-Dollar besteht in einer Umschuldung der italienischen Regierung und beinhaltet eine als illegitim angesehene Schuld.
Der Verdacht wurde laut, dass die Erdölindustrie eine herrschende Positi- on zurückerobert hatt e. Gewiss ist, dass der Erfolg der Yasuní-ITT der bei ihrer offi ziellen Präsentation 2007 nicht absehbar gewesen war, mit zu- nehmender Konsolidierung massive Gegenreaktionen hervorrief. Man könnte behaupten, dass der Erfolg der Initiative selbst neue, schwere Gefahren her-aufb eschworen hat. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Initiative weiterhin durch Correas Zweifel und Unsicherheit sowie den andauernden Druck der Ölkonzerne bedroht ist. Denn die Initiative übersteigt die Verständnis- und Handlungsfähigkeit des Präsidenten.
Mehrere Bedrohungen schweben über Yasuní
Es werden also nach wie vor klare Signale an die Politik zur Umsetzung des
Vorschlags erwartet. Es bedarf kohärentem und konsistentem Handeln auf Re-
gierungsebene. Unabdingbar ist, dass die potenziellen Geber_innen Vertrau-
en in den Treuhand-Fonds haben können, ohne dass dabei die Souveränität
Ecuadors angetastet würde. Dieses Gleichgewicht zwischen Vertrauen und
Souveränität, um sicherzustellen, dass die Mitt el gemäß den Plänen der ecu-
adorianischen Regierung verwendet werden, ist essenziell.
Doch auch wenn der Treuhand-Fonds wichtig ist, reicht er nicht aus.
Präsident Correa muss die durch ihn selbst verursachten Probleme wieder Der Neue Extraktivismus in Ordnung bringen. An ihm liegt es, erneut und deutlicher unter Beweis zu stellen, dass er die Initiative unterstützt. Es wäre gut, wenn er formell erklären würde, während seiner Amtszeit keiner Ölförderung im ITT -Gebiet zuzustim- men. Dies würde einen stabilen Zeitrahmen für Verhandlungen ermöglichen. Ebenso sollten Förderaktivititäten an den Grenzen der ITT -Region nicht tole- riert werden, was den absoluten Respekt vor den indigenen Völkern in freiwil-liger Isolation im gesamten Amazonasgebiet einschließen würde. Auch sollte die Regierung sich den anderen Bedrohungen des Nationalparks Yasuní ent-gegenstellen: der Entwaldung und illegalem Holzraubbau, den von Konzen-tration und Kontamination geprägten Monokulturen in der Landwirtschaft , unkontrollierten Siedlungsaktivitäten, illegalem Tourismus und der multimo-dalen Achse Manta-Manaus im Rahmen der Initiative zur Regionalen Infra-strukturintegration Südamerikas (IIRSA), durch die die Amazonasregion in hohem Maße betroff en sein wird2. Zudem müssen die Aktivitäten in den an-grenzenden Blöcken des Erdölkatasters kontrolliert werden, ebenso die für die in der Nähe gelegenen Erdöl-Projekte gebauten Straßen, durch welche all den oben genannten schädlichen Tätigkeiten Tür und Tor geöff net wird.
Zusätzlich sollte auch Block 31 dem ITT -Gebiet angegliedert werden. In dem Block, der im Westen an die ITT -Region angrenzt, lagert wenig Erdöl minderer Qualität, dessen Rentabilität nur durch die Ausbeutung des ITT wäre. Es wäre auch wichtig, im Osten, auf peruanischem Gebiet, die Möglich-keit für einen solchen Schritt für die angrenzenden Blöcke auszuloten, in denen sich weitere Vorkommen in Höhe eines knappen Dritt els des auf ecuadoriani-scher Seite gelagerten Erdöls befi nden. Durch eine solche Ausdehnung würde ein noch viel größeres zusammenhängendes Gebiet mit größter Biodiversität geschaff en, in dem auch nicht-kontaktierte Völker leben. All diese Blöcke zu-sammen mit dem unberührbaren Gebiet im Süden des Nationalparks Yasuní würden ein wichtiges Schutzgebiet darstellen.
Die Initiative ist vermutlich der beste Ansatz zur Bekämpfung der globalen Erderwärmung, da sie die gemeinsamen und diff erenzierten Verantwortlich-keiten für den Übergang zu einer nicht Erdöl-gebundenen Ökonomie und 2 Das Projekt wurde während der neoliberalen Phase zur Förderung dertransnationalen Integration der Region entwickelt und wird auch von den „progressiven" Regierungen weiterverfolgt.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Energienutzung defi niert. Aufgrund der (fehlenden) Logik der Kohlenstoff -märkte konzentrierte sich die Initiative auf das Erdöl. In Anlehnung an die Klimageschäft e im Rahmen des neoliberalen Emissionsrechtehandels wurde dafür ein ähnliches Modell ökologischer Schulden vorgeschlagen, bei dem die Industriestaaten die Schuldner sind.
Eine weitere Bedrohung der Initiative besteht in einem möglichen markt- förmigen Ansatz für ihre Finanzierung. Es ist besorgniserregend, dass einige Regierungsvertreter_innen in Ecuador, in Übereinstimmung mit internatio-nalen Befürworter_innen der Merkantilisierung, für eine Finanzierung durch die Kohlenstoff märkte eintreten. Bei der Finanzierung der Initiative auf REDD („Modell zur Verringerung von Emissionen aus Entwaldung und zerstöreri-scher Waldnutzung") als Option für den Markt zu setzen, und nicht auf ITT als Option für das Leben, und damit den Kohlenstoff zyklus in die Diskussion zu bringen, ist eine bedenkliche öff entliche Positionierung. Der Kohlenstoff des Erdöls lässt sich nicht mit dem der Wälder vergleichen. Der erste unterliegt geologischen, der zweite biologischen Zeiträumen. Das marktförmige REDD-Modell schätzt den pfl anzlichen Kohlenstoff der Wälder im Rahmen eines Szenarios des An- und Verkaufs von Kohlenstoff speichern, so wie bei dem Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung im Emissionshandel. -Initiative zielt auf die Vermeidung solcher Emissionen ab und stellt damit die Logik bisheriger Klimaschutzpolitik in Frage. Wer die REDD-Projekte befürwortet, weiß nichts über ihre negativen Folgen für in-digene Gemeinschaft en, ihre Territorien, ihre Ökonomien und Kulturen. Mit der Einführung von REDD wird der Schutz der Wälder in die Sphäre der Geschäft swelt überführt. Mit REDD erfolgt die Kommerzialisierung und Privatisierung von Luft , Wäldern, Bäumen und der Erde insgesamt. Die Ko-lonisierung durch das Kapital wird so noch weiter ausgedehnt. In gewisser Weise frisst die Schlange des Kapitalismus damit immer weiter ihren eigenen Schwanz. Es ist der Beleg dafür, dass der Kapitalismus als Zivilisation der Un-gleichheit von seinem Wesen her plündernd und ausbeuterisch ist; eine Zivi-lisation, die „davon lebt, das Leben und die Sphäre des Lebens auszulöschen" (Echeverría 2010). Die zunehmende Inwertsetzung der Natur ist letztlich ein Akt der Blindheit gegenüber der Dringlichkeit, den Weg zu einer anderen Zivi-lisation einzuschlagen. Und der Handel, wie Rosa Luxemburg richtig verstand, bleibt eine bedeutende Quelle der Bereicherung und Akkumulation.
Der Neue Extraktivismus In der Tat dehnen sich die Kohlenstoff märkte, angetrieben von der Gier der Kapitalakkumulation, immer weiter aus. Diese Märkte dehnen sich zu einer Blase, ähnlich der Immobilienblase, die zum jüngsten Zusammenbruch der Fi-nanzwelt mit globalen Folgen führte. Ein zentrales Merkmal dieser neuen Blase ist, dass auf den Kohlenstoff märkten ein wenig greifb ares Gut gehandelt wird.
Der Kapitalismus kolonisiert das Klima und stellt damit seinen erstaunlichen und abartigen Erfi ndungsreichtum bei der Suche und dem Finden neuer ausbeut-barer Sphären unter Beweis. Durch diese extreme neoliberale Übung, der sich auch die „progressiven" Regierungen Lateinamerikas nicht entziehen, werden die Kapazitäten von Mutt er Erde zu einem Geschäft über den Kohlenstoffk Besorgniserregend ist, dass die Atmosphäre immer mehr zu einer neuen Ware ge-macht wird – konzipiert, reguliert und verwaltet von denselben Akteuren, die die Klimakrise verursacht haben, und nun über ein ausgefeiltes fi nanzwirtschaft liches und politisches System von den Regierungen Subventionen erhalten. Es sei daran erinnert, dass dieser Prozess der Klimaprivatisierung in der Zeit des Neolibera-lismus angestoßen wurde, von der Weltbank, der Welthandelsorganisation und weiteren internationalen Organisationen.
Die Geschichte der Kohlenstoff märkte begann mit dem Cap-and-Trade- Ansatz, der eine Obergrenze für Emissionen und den Tausch von Emissions-rechten vorsah. Die vermeintlichen Obergrenzen, die den kontaminierenden Industrien von den Regierungen auferlegt wurden, entwickelten sich, wie man gesehen hat, statt zu einem Instrument der Emissionsreduktion vielmehr zu einem Stimulus für noch mehr Kontamination. Nach nicht unbedeutender vorheriger Einfl ussnahme verteilen die Regierungen nun Emissionsrechte praktisch kostenlos und in vielen Fällen mit Obergrenzen, die über den realen Emissionen liegen, wodurch die großen Umweltverschmutzer_innen noch be-lohnt werden, indem sie überschüssige Emissionsrechte verkaufen können.
Gleichzeitig wurde ein komplexes Finanzsystem entwickelt, in dem ein Ge- genwert für CO festgelegt wurde. So entstanden die Kohlenstoff märkte, mit einer Reihe verfälschter Äquivalenzrelationen zwischen Industrieemissionen und Aufnahme von Kohlenstoff durch die Ökosysteme.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das System der REDD-Projekte nicht die auf den Weltmarkt gerichtete massive und plündernde Extraktion von Rohstoff en verhindert, die nicht nur zu Unterentwicklung, sondern auch zu der globalen Umweltkrise führt. Im Gegenteil: Diese Umweltmärkte dürft en in Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika der Praxis als Anreiz dafür dienen, dass Gemeinschaft en extraktivistische Tä-tigkeiten zulassen, die andernfalls in ihren Territorien abgelehnt würden. Diese erneuerte Marktlogik erinnert an den Geist der Glasperlen, mit denen die euro-päischen Kolonialmächte ihren Eroberungsfeldzug in Amerika begannen. Die unstritt igen Erfolge eines unvollendeten Projekts
Im Kampf gegen die bestehenden Bedrohungen, die von der Inkohärenz der
ecuadorianischen Regierung3 und der Gier der Vertreter_innen der Erdölin-
teressen ausgehen, hat die Initiative schon vor ihrer Umsetzung einige zufrie-
denstellende Ergebnisse gebracht. Das Th
ema wurde in all seinen Facett en auf nationaler und sogar internationaler Ebene diskutiert. Innerhalb Ecuadors gibt es Stimmen, die mit gewichtigen Argumenten dafür eintreten, dass das Erdöl im Boden bleibt, auch wenn es nicht gelingen soll-te, die internationalen Ausgleichszahlungen zu erhalten. Diese dritt e Option könnte durch die rigorose Interpretation der Verfassung umgesetzt werden: Eine Erdölförderung im besagten Gebiet kann nur auf begründeten Antrag des Präsidenten aufgenommen werden, nachdem die Nationalversammlung sie zum nationalen Interesse erklärt hat und das Th ema in diesem Fall einer Volksabstimmung unterziehen könnte. Das letzte Wort wird also die ecuado-rianische Bevölkerung haben.
Unter diesen Umständen muss die Zivilgesellschaft Wachsamkeit beweisen. Es muss absolut klar sein, dass eine wirkliche Erfolgsgarantie für die Yasuní-ITT -Initiative, die das Leben in dieser Amazonasregion bewahrt, im Engage- ment der Zivilgesellschaft en Ecuadors und der Welt liegt, die aufgefordert sind, sich dieses Projekt des Lebens zu eigen zu machen. Es müssen die natio-nalen und internationalen Bedingungen verändert werden, die von den Erdöl-interessen beherrscht sind – bereit, alles zu tun, um das innovative Potenzial dieses revolutionären Vorschlags zu unterdrücken. Dieses Erdöl, das für Ecuador ein Fünft el seiner Ölreserven darstellt und von 3 Es ist wahrscheinlich, dass die Regierung irgendwann, je nach politischer Lage, dasScheitern des Projekts beschleunigt, unter dem Vorwand, die neue vom Präsidenten eingesetzte Verhandlungskommission habe letztlich nichts erreichen können. Das Scheitern könnte auch den entwickelten Ländern oder sogar den Umweltschützer_innen angelastet werden, da sie nicht die erforderlichen Mitt el akquirieren konnten.
Der Neue Extraktivismus der Menschheit in kaum neun Tagen aufgebraucht sein würde, nicht zu fördern, würde die unabdingbare Wiederbegegnung des Menschen mit der Natur ermög-lichen und den Weg hin zu einer Energiewende eröff nen: die Überwindung des fossilen Zeitalters, dessen biophysikalische Grenzen bereits absehbar sind.
Durch die Aufgabe engstirniger und egoistischer Positionen, ist darauf zu hoff en, dass viele Initiativen dieser Art in der ganzen Welt entstehen. Die Lo-sung muss heißen: „Schafft zwei, drei, viele Yasunís!" Literatur
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Dem Beitrag liegen verschiedene Arbeiten des Autors zum Th
die für diesen Band aus dem Spanischen übersetzt wurden.
Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Sieg der Marktlogik Das Yasuní-Projekt und die deutsche Politik Miriam Lang Auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm im Sommer 2007 kündigte Kanzlerin Angela Merkel große Klimaschutzinitiativen an. Kurz davor hatt e die neuge-wählte Regierung Ecuadors den Vorschlag öff entlich gemacht, das Öl im mega-diversen Nationalpark Yasuní im Boden zu belassen. Ecuador appellierte an eine gemeinsame Verantwortung der Staatengemeinschaft für den Klimaschutz und den Erhalt des Amazonasgebiets – daher der Vorschlag, die Industrielän-der sollten die Hälft e der zu erwartenden Einnahmen aus der unterbleibenden Ölförderung in einen Fonds einzahlen.
Im Mai 2008 fand in Bonn die 9. Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt statt . Auch bei diesem Anlass waren zahlreiche Absichtserklärungen von deutschen Politiker_innen zu vernehmen. Wenige Wochen später, am 25. Juni, fand im Bundestag eine ungewöhnliche Sitzung statt : Auf Initiative der Grünen brachten alle Parteien mit Ausnahme der Linken – die vermutlich aus traditionellem Antikommunismus nicht dazu eingeladen worden war – einen gemeinsamen Antrag zur Unterstützung der ecuadorianischen Initiative ein. Der SPD-Abgeordnete Sascha Raabe sprach von einem „entwicklungspoli-tisch und ökologisch revolutionären Vorschlag" und wollte ähnliche Projekte in anderen Urwaldgebieten anregen, beispielsweise in Indonesien. Sowohl er als auch Annett e Hübinger (CDU) stellten eine Führungsrolle Deutschlands bei den zu erwartenden internationalen Verhandlungen in Sachen ITT in Aussicht, um auch andere EU- und OECD-Staaten zum Mitmachen zu be-wegen. Angelika Brunkhorst (FDP) meinte: „Wir können nicht erwarten, dass die mit einer reichen Artenvielfalt gesegneten, aber wirtschaft lich vergleichs- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika weise armen Länder ohne Gegenleistung auf wirtschaft liche Entfaltungsmög-lichkeiten verzichten", womit sie ebenfalls für einen fi nanziellen Beitrag der Bundesrepublik plädierte. Auch die Linkspartei unterstützte den Antrag, der im Bundestag schließlich einstimmig angenommen wurde. Als 2009 der ecu-adorianische Außenminister Fander Falconí den deutschen Bundestag über den Stand der Initiative informierte, sicherten alle Bundestags-Parteien dem Yasuní-Projekt weiterhin ihre Unterstützung zu. Von der großen Koalition wa-ren dem Projekt jährlich 50 Millionen Euro in Aussicht gestellt worden.
Es gab allerdings noch viele Fragen bezüglich der konkreten Umsetzung, die in einen ausgedehnten Briefwechsel zwischen der deutschen und der ecuado-rianischen Regierung mündeten. Viel Zeit sollte auch von ecuadorianischer Seite vergehen, bis der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zu verwaltende Fonds im August 2010 schließlich eingerichtet und die entsprechenden Regularien offi ziell gemacht wurden. Anstatt der Initia- tive seinen vollen politischen Rückhalt zu geben, setzte der ecuadorianische Präsident Rafael Correa immer wieder Fristen, verbunden mit der Drohung, wenn bis dahin keine Finanzzusagen in ausreichender Höhe eingegangen sei-en, werde das Öl im Yasuní doch gefördert. Man kann darüber streiten, ob die-ser anhaltende politische Druck der Initiative mehr genutzt oder ihr vielmehr geschadet hat, weil er bei potentiellen Geber_innen Zweifel an der Nachhal-tigkeit des ecuadorianischen Vorschlags weckte. Nicht nur in der ecuadorianischen Bevölkerung – die laut Meinungsumfra- gen mit großer Mehrheit eine Ausbeutung des Öls im Yasuní ablehnt – hatt e die Initiative eine große Ausstrahlungskraft . Auch in der deutschen Zivilge-sellschaft begannen zahlreiche Organisationen, Institutionen und Initiativen, sich für den Erhalt des Yasuní zu engagieren, darunter BUND, Klimabündnis, Klimaallianz Deutschland, die Stadt Hannover, Rett et den Regenwald e.V., das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika (FDCL), Deutscher Naturschutzring und andere mehr schlossen sich in einem Netz-werk zusammen (www.saveyasuni.eu), um für die deutsche Unterstützung für das Projekt zu werben und die Politik hierin kritisch zu begleiten. Später wurden von dem Netzwerk auch private Unterschrift en- und Spendenkampa-gnen für Yasuní durchgeführt, die auf ein unerwartet positives Echo seitens der Bevölkerung stießen, sowie Aktionen an Schulen, in Betrieben und auf der Straße. Das Netzwerk wird zudem von Prominenten wie Heiner Geißler, Frank Der Neue Extraktivismus Bsirske und der ehemaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul unterstützt.
Was macht die Yasuní-Initiative in Deutschland politisch so att raktiv? Ge- genüber der Misere der jährlichen Klimaverhandlungen und dem faktischen Scheitern der Biodiversitätskonvention, des Kyoto-Protokolls und der in Rio 1992 verkündeten Nachhaltigkeitsstrategien, handelt es sich hier um einen ganz konkreten Vorschlag, einen Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit zu tun. Der globale Norden wird damit einem kleinen Teil seiner historischen Verantwortung gerecht, seinen Wohlstand auf der einseitigen Ausbeutung von Ressourcen aus dem Süden aufgebaut und durch seine ungehemmte Indus-trialisierung und seinen Wachstum die Klimakrise provoziert zu haben. Die Yasuní-Initiative steht zudem endlich für eine Logik, die nicht den Profi t, son-dern den Erhalt des Lebens in den Vordergrund stellt – eine Logik, die die Bedürfnisse künft iger Generationen und die Endlichkeit unseres Planeten wahrnimmt und in ihrer Bedeutung vor das schnelle Geld stellt, das menschli-ches Handeln heutzutage in so erdrückender Weise bestimmt. Revolutionär ist an dem Vorschlag auch, dass er von einem geopolitisch recht unbedeutenden Entwicklungsland aus dem Süden wie Ecuador formuliert wurde, das damit in einer Zeit des allgemeinen Zauderns international eine Vorreiterrolle in kon-kretem, praktischem Natur- und Klimaschutz einnahm. Die schwarz-gelbe Koalition, personifi ziert in Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), sollte dieser Aufb ruchstimmung jedoch ein jähes Ende bereiten. Im September 2010 verkündete der Minister, man werde eine Einzahlung in den von Ecuador nun eingerichteten Yasuní-Fonds „nicht in Betracht ziehen".1 Ohne die politische Tragweite der Initiative auch nur im Ansatz zu erkennen, argumentierte er rein betriebswirtschaft lich, die ecuadorianische Initiative weise keine komparativen Vorteile gegenüber anderen Ansätzen auf, wie dem UN-Waldschutzprogramm REDD („Modell zur Verringerung von Emissio-nen aus Entwaldung und zerstörerischer Waldnutzung"), und könne womög-lich einen Präzedenzfall schaff en. Diese kleingeistige Haltung des Ministers traf nicht nur auf breites Unverständnis in den Medien und provozierte Protes-taktionen. Selbst bei den Entwicklungspolitiker_innen des Koalitionspartners CDU-CSU machte sich Niebel mit dieser Haltung keine Freund_innen: So- 1 Brief von Minister Niebel an die Grüne MdB Ute Koczy vom 14.09.2010.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika wohl Unionsfraktionsvize Christian Ruck als auch die Bundestagsabgeordnete Hübinger kritisierten seine Weigerung, den erklärten Willen des Parlaments umzusetzen. Hübinger zufolge schaff e dies „eine sehr schwierige Situation". „Man wird einfach abgebügelt", klagte sie gegenüber der Tageszeitung taz (Re-pinski 2011).
Doch während die ehemalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczo- rek-Zeul weiterhin von einem „beispielhaft en Projekt" sprach, hielt ihr Nach-folger an seiner Kehrtwende fest. Auch die Tatsache, dass UN-Generalsekretär Ban Ki Moon das Th ema Yasuní im September 2011 auf die Tagesordnung der UN-Vollversammlung setzte und die Initiative auf internationaler Ebene Unterstützung von Prominenten wie Al Gore, Woody Allen, Edward Norton, Leonardo Di Caprio und sogar dem ehemaligen Weltbankchef James Wolfen-sohn erfuhr (Neuber 2011), konnte Niebel nicht umstimmen. Das Bundes-ministerium für wirtschaft liche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) insistierte, es sei zwar für Waldschutz, aber ausschließlich dann, wenn dieser im Rahmen des UN-Programms REDD+ statt fi nde. Am 23. September 2011 stellte Dirk Niebel in der taz nochmals seine Posi- tion dar: „Erhalt von Biodiversität, Umwelt- und Klimaschutz haben für die deutsche Entwicklungspolitik einen hohen Stellenwert. Allein in Lateiname-rika setzen wir dafür jährlich rund 120 Millionen Euro ein. In unserer Zusam-menarbeit haben wir viele Erfahrungen gewonnen. Eine wichtige ist: Nicht alles, was gut gemeint ist, funktioniert auch gut." Als Positivbeispiel im Gegensatz zur Yasuní-Initiative nannte Niebel den brasilianischen Amazonienfonds, der im Rahmen des UN-REDD-Programms funktioniert: „Die Höhe der Mitt el, die jedes Jahr aus dem Amazonienfonds für Entwaldungsbekämpfung gezogen werden dürfen, bemisst sich an der Entwaldungsrate. Geht sie im Vergleich zu einem Referenzwert zurück, wer-den Gelder in den Fonds eingezahlt. Nimmt die Entwaldung zu, gibt es kei-ne Einzahlung. Die Höhe der Gelder, die eingeworben werden, berechnet sich also aus der reduzierten Entwaldungsrate im Amazonasregenwald. Die Überprüfung der erreichten Wirkungen wird über eine satellitengestützte Ent-waldungsstatistik sichergestellt. Der Mechanismus belohnt Handeln, und er bemisst sich an konkreten Wirkungen. […] Deshalb schaff e ich ganz bewusst keinen Präzedenzfall, der in immer neue Forderungen mündet, fi nanzielle Mitt el zum Unterlassen von Umweltschädigungen bereitzustellen – genauso, Der Neue Extraktivismus wie ich nicht einen Fonds als Belohnung dafür einrichte, dass vor Somalia keine Schiff e mit Lebensmitt eln mehr von Piraten überfallen werden. […] Wir haben der ecuadorianischen Regierung deshalb vorgeschlagen, den Rah-men des bestehenden REDD-Engagements in Ecuador auf die Region Yasuní auszudehnen"(Niebel 2011).
Was hat es jedoch mit dem REDD-Programm auf sich, das Dirk Niebel so sehr am Herzen liegt? Es basiert auf einem umstritt enen theoretischen Mo-dell, das die Funktion von Wäldern als Kohlenstoff speicher wirtschaft lich an-erkennt und dem in Wäldern enthaltenen Kohlenstoff einen monetären Wert zuweist. Damit verbunden ist die Hoff nung, die Entwaldung insbesondere von Tropenwäldern durch fi nanzielle Anreize zu reduzieren – also wird, genau wie Dirk Niebel es nach eigenen Worten ablehnt, dafür bezahlt, dass etwas unter-lassen wird. REDD+ schließt neben der vermiedenen Entwaldung, die in Geld umge- rechnet wird, zudem den aktiven Schutz der Ressource Wald als Kohlenstoff -speicher durch nachhaltiges Management ein. Die praktische Umsetzung soll im Kontext der internationalen Klimaverhandlungen auf der Grundlage des Kyoto-Protokolls statt fi nden. Derzeit erhalten 14 Staaten UN-Mitt el, darunter auch Ecuador, um unter den von FAO, UNDP und UNEP gesetzen Rahmen-bedingungen nationale Programme zu entwickeln. Allerdings befi nden sie sich zumeist noch in einer Vorbereitungsphase („Readiness for REDD"), und un-terschiedliche Akteure ringen auf internationaler Ebene noch um verschiedene Modelle. Hierbei steht unter anderem zur Diskussion, ob REDD die Kompen-sation für den Erhalt der Wälder über den Emissionshandel fi nanziert, oder aber über spezielle internationale oder nationale Fonds. So eindeutig, wie es bei Dirk Niebel klingt, ist die Sache also in der Praxis noch lange nicht. Und sie ist in ihren konkreten Auswirkungen extrem umstritt en. Ohne Zweifel ist REDD einer der derzeit wichtigsten Vorstöße zur Merkan- tilisierung der Natur – insofern verfolgt REDD genau die umgekehrte Logik wie die ecuadorianische Yasuní-Initiative. Nicht Geld und Profi t werden dem Leben untergeordnet, sondern Wald, also das Leben, wird in die Logik der Fi-nanzmärkte integriert und zur profi tablen Ware gemacht. Eine Logik, die dem FDP-Technokraten Niebel, der Entwicklungshilfe ohnehin als Wirtschaft sför-derung und Erweiterung der Märkte für Deutschland versteht, sehr gelegen kommt. Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Durban Group for Climate Justice zufolge ist REDD als Instrument zum Klimaschutz nicht geeignet, da es nicht zum prioritären Inhalt hat, fos-sile Treibstoff e ungefördert im Boden zu lassen, sondern im Gegenteil den in-dustrialisierten Ländern eine Lizenz zum Weiterverschmutzen gibt, indem sie über REDD Verschmutzungsrechte erwerben können. REDD diene vielmehr der weiteren festen Verankerung des Verbrauchs von fossilen Brennstoff en – der Hauptursache der Klimakrise – und versäume es zugleich, die Zukunft der Wälder und die Rechte der indigenen Völker und waldabhängigen Gemein-schaft en über ihre Territorien und ihr Wissen über den Wald zu gewährleisten. Was bei REDD unhinterfragt bleibe sei, dass das hohe Konsumniveau und der extreme hohe Rohstoffb edarf in den nördlichen Industrieländern wichtige Ur- sachen der Entwaldung im Süden sind. Insofern sei REDD ein Mechanismus, der es den nördlichen Industriestaaten erlaube, wie gewohnt weiterzumachen und Emissionsreduzierungen zuhause zu vermeiden. „Die neuen Verschmutzungslizenzen, die durch REDD generiert werden sollen, sind in einer Art und Weise konzipiert, die die einzige funktionsfähi-ge Lösung des Klimawandels blockieren: Öl, Kohle und Gas müssen in der Erde bleiben. Wie die Emissionszertifi kate, die durch den Clean Development Mechanism (CDM) des Kyoto-Protokolls generiert werden, sind sie nicht dafür vorgesehen, irgendeinen Nett ogewinn für das Klima zu erreichen, son-dern lediglich dafür, den exzessiven fossilen Brennstoff verbrauch woanders zu kompensieren. In Wirklichkeit schaff en sie es nicht einmal, dieses Null-summenspiel zu erfüllen. Wie die CDM-Zertifi kate verschlimmern sie den Klimawandel, indem sie industrialisierten Ländern und deren Firmen Anrei-ze schaff en, die Durchführung eines umfassenden strukturellen Wandels von fossiler Energie abhängigen Systemen der Produktion, des Verbrauchs und des Transports, den das Klimaproblem verlangt, zu verzögern. Sie verschwenden jahrelang wertvolle Zeit, die die Welt nicht mehr hat." 2 Pikant ist darüber hinaus, dass die UN in ihrer Defi nition von schützenswer- tem Wald keinen Unterschied macht zwischen gepfl anzten Monokulturen wie Palmöl-, Eukalyptus- oder Teakplantagen und mega-biodiversem Primärwald – schließlich enthalte beides gleichermaßen Kohlenstoff – und REDD damit 2 Siehe: www.pro-regenwald.de/news/2010/02/07/Fundamentalkritik_an (Zugriff : 01.02.2012).
Der Neue Extraktivismus womöglich die Umwandlung von Urwäldern in solche doppelt profi tablen Plantagen sogar befördert (Lohmann 2012).
Ein weiterer schwerwiegender Kritikpunkt bezieht sich auf die Rechte in- digener Gruppen, die das BMZ nach Aussage von Minister Niebel fördern will. Mehrere indigene Zusammenschlüsse auf nationaler und internationa-ler Ebene haben sich nämlich sehr deutlich gegen REDD und REDD+ aus-gesprochen.3 Ihr wichtigstes Argument ist, dass die von der UNO verbrieft en kollektiven Landrechte der Ureinwohner_innen mit der Unterzeichnung von REDD-Verträgen verpfändet werden. Teils werden diese Verträge mit Einzel-personen abgeschlossen, ohne dass die Gemeindeversammlung darüber be-funden hat. „Die Förderer der REDD-Projekte streifen in den Wäldern umher und versuchen, die indigenen Völker und lokalen Gemeinden zu überzeugen, die Abkommen zu akzeptieren. Sie versprechen den Menschen einen Gewinn von Millionen von Dollar, wenn sie im Gegenzug dazu die Rechte auf ihr Land und den Kohlenstoff der Wälder durch eine Unterschrift auf Dritt e übertragen", heißt es in einem Bericht über die praktische Realität von REDD in Peru.4 Ein indigener Anführer aus der Gemeinde Bélgica an der Grenze zu Brasilien pran-gert beispielsweise an, dass eine jener privaten Einrichtungen der Gemeinde „eine treuhänderische Übereignung [vorlegte], bei der die Gemeinde gezwun-gen ist, die Verwaltung [des Gemeindegebietes] zu übergeben und die Ent-scheidungen der Projektt räger 30 Jahre lang zu befolgen – ohne dass wir uns als Personen entwickeln, frei über unser Gebiet entscheiden und nicht einmal die Zukunft unserer Kinder planen dürfen" (npla 2011). In einem geopolitischen Kontext, in dem fast alle sozialen Konfl ikte in Lateinamerika sich um die Ver-fügungsgewalt über Territorien drehen, in denen sich Rohstoff e jeglicher Art befi nden, ist das ein schwerwiegendes Argument gegen REDD, da mit den kol-lektiven Landrechten die Lebensgrundlage der indigenen Völker verschwindet 3 Siehe beispielsweise: www.forestpeoples.org/sites/fpp/fi les/publication/2011/11/la-realidad-de-redd-en-peru-entre-el-dicho-y-el-hecho-para-el-sitio-web_0.pdf, oder den Brief des indigenen Dachverbands CONAIE aus Ecuador an Ban-Ki Moon unter: www.aininoticias.org/2011/07/%C2%A1no-dejemos-que-la-redd-del-mercado-atrape-a-la-madre-naturaleza/ (Zugriff : 01.02.2012).
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika und letztlich Armut geschaff en anstatt bekämpft wird. Kollektive Landrechte sind im Zeitalter der Privatisierung, der Landnahme und der Spekulation mit Agrarböden das letzte Bollwerk gegen die kapitalistische Durchdringung.
Ende 2011 erfreute die ecuadorianische Chef-Unterhändlerin des Yasuní- Projekts, Ivonne Baki, die internationale Gemeinschaft mit einer guten Nach-richt: Die von Präsident Correa gesetzte Mindestsumme von 100 Millionen US-Dollar bis 31.12.2011 sei erreicht, der Nationalpark Yasuní somit vorerst vor der Ölförderung gerett et. Überraschend war allerdings die Nennung ei-nes deutschen Beitrags in Höhe von knapp 47 Millionen US-Dollar als Teil der Gesamtsumme. Hatt e Dirk Niebel sich doch noch überzeugen lassen? Immerhin war im Oktober 2011 eine parteiübergreifende Delegation von Bundestagsabgeordneten in den Yasuní gereist, um die deutsche Unterstüt-zung für das Projekt wiederzubeleben. Der Entwicklungsminister bestritt al-lerdings umgehend, jemals Geld für den Yasuní-Treuhandfonds zugesagt zu haben (amerika 21 2011). Klarheit gab erst Wochen später ein Schreiben der parlamentarischen Staatssekretärin Gudrun Kopp an die Mitglieder des Aus-schusses für wirtschaft liche Zusammenarbeit und Entwicklung im Bundestag. Es sei beschlossen worden, „das bereits bestehende entwicklungspolitische Engagement im Bereich Biodiversität und Schutz und nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen in Ecuador zu erweitern und auf die Yasuní-Region auszuweiten." Zugesagt wurde ein von Umwelt- und Entwicklungsministeri-um anteilig fi nanzierter Gesamtbetrag von 24,5 Millionen Euro, mit denen der Schwerpunkt Umwelt- und Ressourcenschutz der deutschen Entwicklungshil-fe für Ecuador aufgestockt werden soll. Die genaue Verwendung der Mitt el soll erst anlässlich der letzten Runde der diesbezüglichen Verhandlungen zwischen der ecuadorianischen und der deutschen Regierungen im März 2012 festge-legt werden. Klar ist jedoch bereits, dass das Geld ganz im Sinne von Minister Niebel in REDD-Projekte wie das Programm „Socio Bosque" fl ießen soll.
Wieder einmal hat also der globale Norden, vertreten durch die Bundesrepu- blik Deutschland, dem Süden seine Bedingungen aufoktroyiert. Der ecuado-rianischen Regierung blieb in einem Wahlkampfj ahr wie 2012 wenig anderes übrig, als den deutschen Beitrag, ohne den die 100-Millionen-Dollar-Marke bei weitem verfehlt worden wäre, zu den gesetzten Bedingungen zu akzeptie-ren. Andernfalls hätt e sie mit der Ölförderung beginnen müssen – eine extrem unpopuläre Maßnahme. Wieder einmal hat die Marktlogik über die Alterna- Der Neue Extraktivismus tive, die das Leben in den Mitt elpunkt stellt, gesiegt. Und Dirk Niebel konnte ebenfalls das Gesicht wahren, da Deutschland nach den Zusagen von 2008, die so viele Hoff nungen geweckt hatt en, nun immerhin einen Beitrag leistet. Eine klassische Win-Win-Situation im Sinn kapitalistischer Effi zienz also? Verloren haben all diejenigen, die einen tiefgreifenden sozial-ökologischen Umbau, eine Abkehr vom Wachstums- und Akkumulationswahn für notwendig halten, um das Überleben der Spezies Mensch zu gewährleisten.
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Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Ressourcen für Europa Die Rohstoff strategien der EU und Deutschlands gehen auf Kosten des globalen Südens Tobias Lambert Die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen ist für Lateinamerika nichts Neues. Seit der Eroberung durch Spanien und Portugal dient der Kon-tinent als Lieferant von Rohstoff en. Länder wie Bolivien und Venezuela konn-ten in den vergangenen Jahren zwar die staatliche Kontrolle über die Rohstoff e sowie die Einnahmen aus den Erdöl- und Gasexporten deutlich erhöhen und in Sozialprojekte investieren. Dieser „Neue Extraktivismus" hat jedoch nur kurzfristige Vorteile. Die Abhängigkeit von den Rohstoff en steigt, deren Aus-beutung wird durch die gerechtere Verteilung der Gelder wiederum stärker legitimiert und Kritik daran politisch marginalisiert (Gudynas 2009: 193 ff .; siehe auch Beiträge von Eduardo Gudynas in diesem Band). Es sind jedoch nicht nur interne Kräft everhältnisse in den jeweiligen Län- dern, die den Übergange hin zu einem Post-Extraktivismus erschweren. Nachgefragt werden die Rohstoff e zu einem großem Teil in den Ländern des globalen Nordens sowie China. Die häufi g verheerende Menschenrechts- und Umweltbilanz fällt in den Förderländern an, während die sozialen Kosten im Preis eines Rohstoff es nicht abgebildet werden. Wenngleich rohstoff fördernde Unternehmen überwiegend aus Ländern wie Kanada, den USA, der Schweiz oder China stammen, sind die Europäische Union (EU) und Deutschland für viele Probleme mitverantwortlich. Etwa 70 Prozent der EU-Importe sind Roh-stoff e oder Zwischenprodukte, während ärmere Länder des globalen Südens überwiegend unverarbeitete Rohstoff e exportieren (WTO 2010: 58). Wirt-schaft ssektoren wie die Auto- und Chemieindustrie oder das Bauwesen hän-gen vom Import zahlreicher Rohstoff e ab, die innerhalb der EU nicht oder nur Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika in geringem Maße vorhanden sind1. Die Abhängigkeit umfasst sowohl Ener-gieressourcen, wie Erdöl und Gas, als auch Mineralien, Metalle oder Holz. Ein durchschnitt licher EU-Bürger verbraucht 43 Kilogramm Rohstoff e pro Tag. In Asien sind es 14 Kilogramm und in Afrika 10. Wenngleich andere Regio-nen wie Nordamerika (90 Kilogramm pro Kopf und Tag) und Ozeanien (100 Kilogramm) nochmal deutlich mehr verbrauchen, ist die EU eine überdurch-schnitt liche Verbraucherin von Rohstoff en. Etwa 23 Prozent der weltweit ge-handelten Rohstoff e werden von der EU importiert, die somit die Region mit den höchsten Nett o-Importen von Rohstoff en darstellt (WTO 2010: 59 und Friends of the Earth 2009: 21f.). Auf den Druck von Unternehmen hin haben sowohl die EU als auch Deutschland in den letzten Jahren das einstige Nischenthema Rohstoff poli-tik für sich entdeckt und jeweils Strategien entworfen, in deren Mitt elpunkt die Sicherung von Rohstoff en für die Industrie steht. Als Hauptproblem der Rohstoff versorgung machen die Europäische Kommission und die Bundes-regierung Wett bewerbsverzerrungen wie die Anwendung von Exportsteuern und Beschränkung von Investitionen in den Förderländern aus. Die Interes-sen der rohstoff reichen Regionen in Afrika, Asien und Lateinamerika, deren Bevölkerungen in den meisten Fällen bisher nicht von den Rohstoff exporten profi tieren konnten, werden dabei kaum berücksichtigt. Auch beim Import von Agrarrohstoff en schadet die EU-Politik massiv den Menschen im globalen Süden, wie das Beispiel der Soja-Importe aus Südamerika zeigt.
Wenngleich der Wunsch vieler Länder des Südens, die westlichen und nördli- chen Konsummuster zu kopieren, verständlich ist, ist das klassische Wachstums-modell nicht in der Lage, diese negativen Eff ekte zu minimieren. Das im globalen Norden bestehende Wirtschaft ssystem, das auf einem enorm hohen Rohstoff -verbrauch basiert, ist eine der grundlegenden Ursachen des Problems. Der Lö-sungsansatz der EU und Deutschlands besteht bisher darin, die Anstrengungen zur Sicherung von Rohstoff en für die eigene Industrie zu erhöhen. 1 Die eigene Produktion von Metallen in der EU beträgt zum Beispiel gerade einmaldrei Prozent der Weltproduktion. Dies bedeutet, dass etwa 48 Prozent des in der EU benötigten Kupfers, 64 Prozent des Zinkerzes und Bauxits sowie 78 Prozent des Nickels importiert werden. Bei Kobalt, Platin, Titan und Vanadium wird der gesamte Bedarf importiert. Der Neue Extraktivismus Erfolg für die Industrie: Die Rohstoff -Strategien
der EU und Deutschlands
Im Jahr 2008 stellte die Europäische Kommission mit der „Rohstoffi niti-
ative" (Raw Materials Initiative, RMI) erstmals eine gemeinsame europä-
ische Rohstoff politik vor, die den Zugang europäischer Unternehmen zu
wichtigen Rohstoff en sicherstellen soll. Anfang 2011 wurde die Strategie
aktualisiert. Die RMI basiert auf drei Säulen: Sicherung des Zugangs zu Roh-
stoff en auf den Weltmärkten ohne Wett bewerbsverzerrungen, Förderung der
nachhaltigen Versorgung durch Rohstoff e aus europäischen Quellen und
Reduzierung des europäischen Verbrauchs primärer Rohstoff e (European
Commission 2008: 5f.). Laut RMI sei für die Wett bewerbsfähigkeit der EU
ein diskriminierungsfreier Zugang zu Rohstoff en, also zu den gleichen Be-
dingungen wie wirtschaft liche Konkurrent_innen, unabdingbar. Als Haupt-
problem macht die EU Wett bewerbsverzerrungen aus. Die erste Säule ist die
am weitesten ausgearbeitete. Die Kommission schlägt in der RMI eine „Roh-
stoff diplomatie" vor, um den Zugang zu natürlichen Ressourcen zu sichern.
Im Rahmen von WTO-Verhandlungen und Freihandelsverträgen soll dies Pri-
orität erhalten, Wett bewerbsverzerrungen wie Exportsteuern sollen beseitigt
werden (ebd.: 7).
Im Juni 2010 veröff entlichte die Kommission einen Bericht, der 41 Minera- lien und Metalle analysiert. Als Ergebnis werden bei 14 für die EU wichtigen Rohstoff en Engpässe bei der Verfügbarkeit befürchtet2. Die Sorge gilt dabei ausschließlich den Auswirkungen der Engpässe für die europäische Wirtschaft , nicht den bei der Förderung verursachten Umweltschäden oder Menschen-rechtsverletzungen (European Commission 2010a).
Im Februar 2011 aktualisierte die Kommission mit der Mitt eilung „Tackling the Challenges in Commodity Markets and on Raw Materials" die RMI. Die neue Mitt eilung stellt das Th ema Rohstoff e in einen breiteren Rahmen, bekräft igt aber die bereits in der RMI ausformulierten Prinzipien, wenn auch mit einigen kleinen Veränderungen: Zunächst wird eine Verbindung zwischen der hohen Preisvolatilität auf den Rohstoff märkten und der Spekulation betont sowie mehr 2 Die 14 als kritisch eingestuft en Mineralien und Metalle sind: Antimon, Beryllium,Kobalt, Flussspat, Gallium, Germanium, Graphit, Indium, Magnesium, Niobium, Platinmetalle, seltene Erden, Tantal und Wolfram.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Transparenz und Regulierung der Märkte gefordert (European Commission 2011: 6). Es wird hervorgehoben, die EU wolle ärmeren Ländern helfen, „umfas-sende Reformprogramme zu erarbeiten, in denen Ziele wie die Verbesserung der Besteuerungssysteme für den Bergbau und die Erhöhung der Transparenz von Geldquellen und Verträgen oder der Fähigkeit, Einnahmen zur Unterstützung von Entwicklungszielen zu verwenden, eindeutig benannt werden" (ebd.: 15). Ebenfalls neu ist, dass die Kommission als Ziel ausgibt, Entwicklungspolitik sol-le sich „auch auf die Vernetzung der Abbaubetriebe mit der örtlichen Wirtschaft konzentrieren, und zwar durch Verbesserung der Wertschöpfungskett e und eine größtmögliche Diversifi zierung". Freihandelsabkommen sollten „zur Erreichung dieses Ziels ausreichend fl exibel gestaltet werden" (ebd.: 16). Jenseits der leicht abgemilderten Rhetorik geht es aber auch in der Aktua- lisierung der RMI letztlich um den vorteilhaft esten Zugang zu Rohstoff en für die EU. Wett bewerbsverzerrungen werden als „wachsende Sorge" bezeichnet (ebd.: 6). Es wird betont, dass die EU „im Rahmen aller relevanten Verhand-lungen, ob bilateral oder multilateral, [.] Handelsregeln für Ausfuhrbeschrän-kungen vorgeschlagen" hat (ebd.: 12). Die erwähnte Flexibilisierung der Freihandelsabkommen zugunsten sozialer Komponenten, ist in der Realität nicht ersichtlich. Die zweite und dritt e Säule bekommen in der Aktualisierung der RMI etwas mehr Aufmerksamkeit. Dennoch ist der freie Zugang zu Roh-stoff en nach wie vor der Fokus der EU-Rohstoff strategie. Zusätzlich zur europäischen RMI hat Deutschland eine eigene Rohstoff - Strategie entwickelt. Im Oktober 2010 publizierte das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die „Rohstoff strategie der Bun-desregierung. Sicherung einer nachhaltigen Rohstoff versorgung Deutsch-lands mit nicht-energetischen mineralischen Rohstoff en". Wenngleich diese ressortübergreifend ausgearbeitet wurde, spielte das BMWi von allen betei-ligten Ministerien die bedeutendste Rolle in der Entstehung des Papiers. Die deutsche Rohstoff strategie hat ebenso wie die RMI der EU die Reduzierung von Handelsbarrieren zum Ziel. Die Anwendung von Exportrestriktionen wird als Bedrohung dargestellt, da sie „mitt elfristig Wachstum und Beschäf-tigung in Deutschland gefährden" (BMWi 2010: 9) könne. Um die Sicherung der Rohstoff versorgung zu gewährleisten, bietet die Bundesregierung Unter-nehmen staatliche Instrumente, wie Garantien für ungebundene Kredite, In-vestitionsgarantien und Exportgarantien, an (ebd.: 10).
Der Neue Extraktivismus Zwar erklärt die Bundesregierung, „dass nachhaltige Entwicklung sowie wirtschaft licher und sozialer Fortschritt ohne gute Regierungsführung, ohne Achtung der Menschenrechte und ohne Beachtung ökologischer und sozialer Standards nicht möglich ist" (BMWi 2010: 8). Konkrete Vorschläge, wie dies bei der Rohstoff förderung jenseits freiwilliger Leitlinien garantiert werden könnte und welchen Anteil Deutschland daran leisten will, macht sie allerdings nicht.
Insgesamt trägt die deutsche Rohstoff strategie deutlich die Handschrift des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), der die Interessen der In-dustrie gegenüber Politik und Öff entlichkeit vertritt . Der BDI hatt e seit Jahren Lobbyarbeit zugunsten einer deutschen und europäischen Rohstoff strategie gemacht und an der Ausarbeitung der deutschen Strategie seit dem ersten Rohstoffk ongress der damaligen rot-grünen Bundesregierung 2005 in einem „engen Dialog" mitgewirkt (Bundesregierung 2007: 5). Auswirkungen auf die Förderländer:
Exportsteuern und Investitionen
Die EU-Politik erschwert es den Förderländern von vornherein, vom Ex-
port ihrer Rohstoff e zu profi tieren, geschweige denn eine postextrak-
tivistische Transition einzuleiten. Die zwei Bereiche, in denen die EU wett -
bewerbsverzerrende Maßnahmen eliminieren will, sind Exportsteuern und
ausländische Direktinvestitionen. Auf verschiedenen Ebenen wie der WTO,
bei Freihandelsverträgen und Bilateralen Investitionsschutzabkommen,
wird darüber verhandelt.
Die Anwendung von Exportzöllen kann rohstoff reichen Ländern nutzen, sofern die Mehreinnahmen sinnvoll verwendet oder durch einen Rückgang der Förde-rung die negativen Folgen des Extraktivismus verringert werden können (Curtis 2010: 17). Die WTO verbietet die Anwendung von Exportbeschränkungen nicht, sieht dieses Instrument aber kritisch (WTO 2010: 160 ff .). Auch die Europäische Kommission erkennt an, dass Exportbeschränkungen „unter bestimmten Bedin-gungen" gerechtfertigt sein können (European Commission 2009: 12). Dies gel-te aber nur, wenn Exportsteuern mit eindeutigen Regeln und Zielen und für alle Marktt eilnehmer_innen zu gleichen Bedingungen angewendet würden. Dennoch stellt die Beseitigung beziehungsweise Einschränkung dessen, was als „wett bewerbsverzerrende" Maßnahmen bezeichnet wird, ein prinzipielles Ziel der EU dar. Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der zweite bedeutende Bereich, in dem die EU Regeln durchsetzen will, die den europäischen Konzernen nützen, sind Investitionen. Schutzklauseln für ausländische Investitionen fi nden sich in bilateralen Investitionsschutzabkom-men (Bilateral Investment Treaties, BITs), aber auch in Freihandelsverträgen (Free Trade Agreements, FTAs). Derartige Vereinbarungen sollen ausländi-sche Direktinvestitionen absichern und stehen über dem jeweiligen nationalen Recht. Die EU will vor allem die Bereiche Inländerbehandlung, Investoren-schutz und freien Kapitalverkehr implementieren (Curtis 2010: 30). Inländer-behandlung bedeutet, dass einheimische und ausländische Investitionen nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. Der Investorenschutz statt et Inves-toren mit bestimmten Rechten aus, die den jeweiligen Regierungen für die Im-plementierung von Politiken, die den Investor betreff en könnten, Schranken setzen. Unternehmen können sich in vielen Fällen gar auf einen „enteignungs-gleichen Eingriff " berufen, wenn zu erwarten ist, dass durch neue Arbeits- oder Umweltgesetze ihre Gewinne vermindert würden. Durch einen freien Kapitalverkehr können Investoren ihre Gewinne aus dem Land transferieren. Dies bedeutet, dass es einer Regierung unmöglich gemacht beziehungsweise deutlich erschwert wird, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um das Land zum Beispiel vor spekulativem Kapital zu schützen. Verstößt ein Staat nach Ansicht eines Unternehmens gegen ein BIT, kann dieses Unternehmen in ei-nem „Investor-Staat-Verfahren" vor ein internationales Schiedsgericht ziehen, ohne dass zuvor der nationale Rechtsweg erschöpft sein muss. Die meisten dieser Verfahren landen gemäß den konkreten Bestimmungen der jeweiligen Abkommen beim Internationalen Zentrum für Investitionsstreitigkeiten (IC-SID), dem Schiedsgericht der Weltbankgruppe. Die Ausgangsbedingungen der Kontrahent_innen sind dabei äußerst un- gleich verteilt, da BITs in der Regel zwischen Industrieländern auf der einen und ärmeren Staaten auf der anderen Seite geschlossen werden. Im Streit-fall können die kleineren und ärmeren Länder den juristischen Abteilungen großer Konzerne wenig entgegen setzen. Die Industrieländer, allen voran Deutschland, setzen einen bedingungslosen Investorenschutz durch3. Statt 3 Mit Inkraft treten des Lissabon-Vertrags der Europäischen Union am 1. Dezember2009 ging die Kompetenz zur Aushandlung von BITs von den einzelnen Mitglied-staaten zur EU-Kommission über. Eine Aufnahme von Pfl ichten für Investoren .
Der Neue Extraktivismus des Investorenschutzes bräuchte es hingegen Mechanismen, die wirksam die Bevölkerung und die Umwelt vor Schäden schützen, die durch einen Investor verursacht werden können.
Die Laufzeiten von BITs und FTAs sind in der Regel unbegrenzt. Eine Re- gierung kann diese zwar kündigen, für bereits getätigte Investitionen gilt der Schutz jedoch bis zu mehrere Jahrzehnte über die Kündigung hinaus. Durch die Unterzeichnung derartiger Verträge riskieren Staaten somit, ihr demokrati-sches Recht, über Wirtschaft s-, Sozial-, und Umweltpolitik zu entscheiden, für lange Zeit stark einzuschränken. Natürlich kann die Beschränkung von Exporten und Investitionen auch ne- gative Eff ekte für ein Land haben. Um daraus Nutzen zu ziehen, erfordert es nachhaltiger Politiken und funktionierender Institutionen. Bei korrupten Re-gierungen und Eliten, die zusätzliche Einnahmen in die eigene Tasche stecken und sich nicht für Arbeits- und Umweltbedingungen der extraktiven Industri-en interessieren, werden Bevölkerung und Umwelt kaum profi tieren. Da Ex-portsteuern und Restriktionen von Investitionen unter günstigen politischen Bedingungen aber durchaus einem Land nutzen können, dürfen die EU und Deutschland diese nicht per se unterbinden. RMI in Lateinamerika
In Lateinamerika tätig sind vor allem Rohstoff unternehmen aus den USA,
Kanada, Australien, der Schweiz und mitt lerweile auch China. Als Bezieher
lateinamerikanischer Rohstoff e spielt die EU jedoch ebenfalls bereits eine
wichtige Rolle. Auch wenn Afrika4 augenblicklich mehr vom europäischen
Rohstoffh
unger betroff en ist, rückt Lateinamerika zunehmend ins Zentrum des Interesses. Im Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung nimmt das Th ema der Energie- und Rohstoff versorgung Deutschlands einen wichtigen Stellenwert ein (Auswärtiges Amt 2010: 39). In seiner Bewertung der jüngs- 3 . ist nicht vorgesehen. Die deutsche Regierung und deutsche Wirtschaft sverbändefordern, dass bei der Vereinheitlichung der bisherigen BITs unter dem Dach der EU-Kommission das investorenfreundliche deutsche Muster-BIT als Vorlage dient.
4 In den Verhandlungen über sogenannte Wirtschaft liche Partnerschaft sabkomme(EPAs) zwischen der EU und afrikanischen Staaten spielt der Zugang zu Rohstoff en eine bedeutende Rolle.
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika ten Aktualisierung der RMI, erwähnt der Rat der Europäischen Union Latein-amerika ausdrücklich als Lieferant von Rohstoff en (Council of the European Union 2011: 5). Das Europäische Parlament legte der Kommission in einer im September 2011 verabschiedeten Resolution nahe, die Rohstoff versorgung zu diversifi zieren und dabei explizit auch Lateinamerika mit einzubeziehen (Eu-ropean Parliament 2011). Tatsächlich wendet die EU längst Prinzipien aus der RMI in Lateinamerika an. Im Jahr 2010 schloss die EU mit Kolumbien und Peru die Verhandlun-gen über ein Freihandelsabkommen ab, das im Bezug auf Exportsteuern und Restriktionen von Investitionen den europäischen Vorstellungen aus der RMI entspricht. Mehr als 85 Prozent der EU-Importe aus Kolumbien sind Rohstof-fe wie Öl, Mineralien und Agrarprodukte. Die Exporte aus der EU nach Ko-lumbien bestehen hingegen zu fast 90 Prozent aus verarbeiteten Gütern.5 Die Importe der EU aus Peru sind zu 92 Prozent Rohstoff e, während 86 Prozent der EU-Exporte nach Peru verarbeitete Güter sind6.
Das Abkommen erschwert die Anwendung von Exportsteuern erheblich. Diese können nur vorübergehend in besonderen Situationen und wenigen Ausnahmefällen erhoben werden (Art. 25 und 106). Die Investmentbestim-mungen gehen über die Regeln der WTO hinaus und enthalten die Libera-lisierung von Investitionen, Patenten, Wett bewerbsrecht und öff entlichem Auft ragswesen. Inländerbehandlung für Investoren wird garantiert, so dass die Regierungen keinerlei Restriktionen auferlegen dürfen (Art. 113 und 114). Der freie Kapitalfl uss soll gemäß dem Abkommen von allen Ländern zugesichert werden. Restriktionen oder Schutzmaßnahmen dürfen nur vorübergehend und als Ausnahme angewendet werden, aber niemals als Schutzinstrument für einzelne Industrien (Art.169 und 170). Das Freihandelsabkommen ent-hält eine allgemeine Menschenrechtsklausel (Art.1), die schwächer formuliert ist als jene im Allgemeinen Präferenzsystem (GSP), mit dem die EU ärmeren Ländern bestimmte Zollerleichterungen gewährt. Kolumbien und Peru wür-den bei Ratifi zierung des Freihandelsabkommens aus dem GSP herausfallen. 6 Vgl.: htt p://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/september/tradoc_113435.pdf(Zugriff : 15.01.2012).
Der Neue Extraktivismus Wäre eine Menschenrechtsklausel, wie sie in dem FTA enthalten ist, ernst ge-meint, müsste sie zumindest im Falle Kolumbiens, wo seit Jahren systematisch Menschenrechte verletzt werden, im selben Moment angewendet werden, in dem das Freihandelsabkommen mit der EU in Kraft tritt . Neben dem Euro-päischen Parlament müssen dem Abkommen noch die nationalen Parlamente Kolumbiens und Perus, eventuell auch alle Parlamente der EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Sollte das FTA in Kraft treten, wird es extraktiven Industrien wie dem Bergbau zusätzlichen Auft rieb geben, weil es die Rechte von Investoren stärkt.
Agrarextraktivismus - Soja für Europas Fleischprododuktion
Auch der Extraktivismus im Agrarbereich wird in Lateinamerika durch die
EU befördert. Fast 80 Prozent der für die europäische Fleischproduktion be-
nötigten Eiweißfutt ermitt el werden importiert. Dies entspricht 22 Millionen
Tonnen Sojaschrot und 13 Millionen Tonnen Sojabohnen jährlich (Agrarko-
ordination 2011: 2)7. Laut Berechnungen des Bundes für Umwelt und Natur-
schutz (BUND) wird in Übersee auf circa 20 Millionen Hektar Soja für die
europäische Tierproduktion angebaut. Davon entfallen allein 2,8 Millionen
Hektar auf Deutschland, was fast der Fläche Brandenburgs entspricht (Schu-
ler 2007: 5). Ohne diesen „Import von Fläche" sind der hohe Fleischkonsum
und die teilweise Überproduktion in Europa nicht denkbar. Während sich
zwischen 2000 und 2007 die Fleischexporte der EU um 32,4 Prozent erhöht
haben, stiegen die Futt ermitt elimporte im gleichen Zeitraum um 17 Prozent
(Wiggerthale 2011: 11).
Dank politischer Entscheidungen in den 1960er Jahren ist der Import von Sojabohnen vom Zoll befreit. Nutznießer waren damals die USA als Haupt-exporteur von Soja. Während zum Schutz der EU-Agrarindustrie die meis-ten Agrarprodukte durch hohe Zölle geschützt sind und die EU gleichzeitig ärmere Länder zur Öff nung ihrer Märkte drängt, sind Futt ermitt el aus Soja 7 Bei der Verarbeitung von Sojabohnen entstehen circa 80 Prozent Sojaschrot und alsNebenprodukt etwa 20 Prozent Sojaöl. Für die Produktion von einem Kilogramm Schweinefl eisch werden 540 Gramm Sojaschrot verfütt ert, für ein Kilogramm Pute 765 Gramm, ein Kilogramm Hähnchen 470 Gramm und ein Kilogramm Rindfl eisch 920 Gramm (Schuler 2007: 5).
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika dank der Zollbefreiung in Europa wesentlich billiger als heimische Alterna-tiven wie etwa Ackerbohnen, Erbsen oder Lupinen (Beste & Boeddinghaus 2011: 7 ff .). Zu den Hauptanbaugebieten von Soja zählt Südamerika8. Der sogenannte Sojagürtel umfasst Teile von Brasilien, Argentinien, Paraguay, Bolivien und Uruguay und erstreckt sich insgesamt auf über 40 Millionen Hektar9. Ein Großteil der in Südamerika angebauten Soja ist heute genmanipuliert. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den US-amerikanischen Biotech-Konzern Monsanto, um den Anbau gentechnisch veränderter (modifi zierter) Organismen (GMO) in der Region zu etablieren. Von dort aus verbreitete sich das Gen-Soja in die Nachbarländer. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist Monsantos „Roundup Ready", das gegen das gleichnamige Herbizid (überwiegend Glyphosat) resistent ist, welches ebenfalls von Monsanto gelie-fert wird (Grain 2007: 16ff .). Der Einsatz von Herbiziden ist seit der Einfüh-rung von Gen-Soja drastisch gestiegen. Wurde bei der konventionellen Soja zuvor gut ein Liter Glyphosat pro Hektar verwendet, sind es nun bis zu über 20 Liter (Rulli 2007: 29). Im Jahr 2008 wurden in Argentinien etwa 200 Mil-lionen Liter Roundup Ready verbraucht; 1996, vor der Einführung des Gen-Sojas, waren es hingegen nur 13,9 Millionen. Dieses vernichtet alles außer der Sojapfl anze selbst. Für europäische Konsument_innen ist nicht ersichtlich, ob ein Tier mit Gen-Soja gefütt ert wurde. Eine Kennzeichnungspfl icht für Fleisch oder Milch gibt es nicht.
Vom Sojaanbau profi tieren fast ausschließlich Großunternehmen. Während vor Ort oft das lokale Agrobusiness und die sogenannten Sojabarone das Sa-gen haben, kontrollieren internationale Konzerne den Großteil des Geschäft s. Die Unternehmen, die (genmanipuliertes) Saatgut verkaufen, sind häufi g die-selben, die auch die für den erfolgreichen Anbau der Monokulturen erforderli-chen Pestizide und Herbizide anbieten (Rulli 2007: 23). 8 Die größten Produzenten sind die USA, Brasilien, Argentinien, China, Indienund Paraguay. Heute werden drei Viertel der weltweiten Sojaproduktion auf dem amerikanischen Kontinent hergestellt. Allein Brasilien produziert ein Viertel der weltweiten Soja.
9 Zum Vergleich: Die Gesamtfl äche der Bundesrepublik Deutschland beträgt knapp36 Millionen Hektar.
Der Neue Extraktivismus Negative Konsequenzen des Soja-Booms
Auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft , die lokale Bevölkerung und die Um-
welt hat der Soja-Boom äußerst negative, teils dramatische Auswirkungen. Das
Soja-Modell basiert grundsätzlich auf Monokultur und Mechanisierung der
Landwirtschaft . Die Ausbreitung der Soja-Front hat permanent die erzwun-
gene und teils off en gewaltsame Vertreibung der ländlichen und indigenen
Bevölkerung zur Folge. Diese migriert verstärkt in die Städte, wo die Armen-
viertel anwachsen.
Menschen, die in unmitt elbarer Nähe von Sojafeldern leben, sind akuten Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt.10 Hinzu kommt, dass durch den fort-schreitenden Soja-Anbau die Artenvielfalt zurückgeht und große Waldfl ächen vernichtet werden (Grain 2007: 52; Suchanek 2010: 81). Auch wird durch die Zerstörung des Amazonasgebietes die globale Erderwärmung beschleunigt, da das Wegfallen des Waldes als CO -Senke den Ausstoß von Kohlenstoff erhöht (Grain 2007: 53). Die Möglichkeit lokal frei darüber zu entscheiden, welche Lebensmitt el an- gebaut werden sollen, rückt durch den Soja-Anbau in weite Ferne. Der klein-bäuerliche Lebensraum und die Strukturen des ländlichen Lebens werden nach und nach zerstört. Die Produktion von Hauptnahrungsmitt eln wie Reis, Bohnen oder Mais sinkt (Grain 2007: 52). Außerdem geht durch den Soja-Anbau fruchtbares Land verloren, da die Böden einer erhöhten Erosion aus-gesetzt sind. Um ein Kilo Sojabohnen zu produzieren, werden zehn Kilo Erde geopfert (Fritz 2009: 91). Ein Umdenken ist erforderlich
Ohne eine radikale Senkung des weltweiten Rohstoffk
onsums werden die Ver- suche, zu einem post-extraktivistischen Modell überzugehen, im Sande verlau-fen. Dabei müssen die industrialisierten Länder, die mit Abstand am meisten Rohstoff e verbrauchen, vorangehen. Die Recycling-Quoten müssen drastisch erhöht werden, um sich dem Ziel einer Kreislaufwirtschaft anzunähern, in der neue Produkte aus unbrauchbar gewordenen alten hergestellt und weniger neue 10 Als häufi gste Folgen des fl ächendeckenden Pestizideinsatzes sind unter anderemErbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen dokumentiert (Suchanek 2010: 78).
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Rohstoff e benötigt werden. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft sollte gestärkt werden und die EU eine eigene Eiweißstrategie forcieren, um die Abhängig-keit von Soja-Importen zu begrenzen und die durch den „Import von Fläche" entstehenden negativen externen Eff ekte der eigenen Fleischproduktion zu be-grenzen. Gleichzeitig müssen Wege gefunden werden, wie die Menschen in är-meren Ländern ihre Situation verbessern können, ohne den Entwicklungsweg der reichen Länder nachzuahmen, der nicht nachhaltig ist und sich aufgrund der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen unmöglich auf den gesamten Planeten übertragen lässt. Die negativen Folgen müssen minimiert werden, während faire Handelsbedingungen dazu beitragen sollten, dass die Menschen in den Förderländern profi tieren. Es geht um nicht weniger, als Übergänge zu gestalten, die über den Extraktivismus hinaus deuten. Die Politik der EU und Deutschland weist bisher allerdings in eine andere Richtung. Literatur
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Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Post-Extraktivismus und Transitionen auf dem Weg zu Alternativen zu Entwicklung Eduardo Gudynas Eine der in Südamerika zurzeit am intensivsten geführten Debatt en hat die Su-che nach Auswegen aus der Flut extraktiver Unternehmungen zum Inhalt. Ge-schuldet ist dies den gravierenden sozialen und ökologischen Auswirkungen dieser auf den Export ausgerichteten Bergbau-, Erdöl- und Intensivlandwirt-schaft sprojekte mit ihren zweifelhaft en wirtschaft lichen Erträgen. Verschiedene Strömungen von Bewegungen und Th eoretiker_innen, die sich mit Menschenrechtsfragen, Naturschutz oder der Rolle der indigenen Gruppen auseinandersetzen, haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, das zu erforschen, was heute als „Transitionen zum Post-Extraktivismus" bezeichnet wird, mit dem Ziel, die Abhängigkeit vom Extraktivismus zu beenden.
Die Debatt e ist besonders ausgeprägt in Ecuador und Peru, zuletzt auch in Bo- livien. Es folgen unter anderem Argentinien und Uruguay, wo die Regierungen am Bergbau festhalten. In viel eingeschränkterem Maße fi ndet die Diskussion auch in Brasilien und Venezuela statt , wo es zwar vereinzelt Stimmen gegen fol-genschwere Projekte gibt, aber keine nationale Auseinandersetzung über Ent-wicklungsstrategien jenseits beispielsweise der Erdölförderung. In Ecuador und Peru dagegen hat die Debatt e über einen Post-Extraktivismus schon begonnen1.
1 Der vorliegende Beitrag soll einige zentrale Aspekte dieser Debatt en zusammen-fassen, ausgehend von den Untersuchungen des Lateinamerikanischen Zentrums für Soziale Ökologie (CLAES) in verschiedenen Ländern der Region. Besonders eingegangen werden soll dabei auf die Ergebnisse für Peru, in Kooperation mit dem Netzwerk für eine Globalisierung in Gerechtigkeit (RedGE), und für Ecuador, in .
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Alternativen zu Entwicklung und Transitionen
Die aktuellen Vorschläge zielen dabei auf radikale Veränderungen ab, auf „Al-
ternativen zu Entwicklung". Unter den derzeitigen Gegebenheiten lassen sich
diese radikalen Veränderungen als ein Prozess verstehen, der ein Bündel von
„Transitionen" umfasst.
Die „Alternativen zu Entwicklung" unterscheiden sich grundlegend von „al- ternativer Entwicklung". Letztere beruht nämlich weiterhin auf den Grundan-nahmen von Entwicklung als Fortschritt , Linearität der Geschichte und notwendiger Aneignung der Natur. „Alternative Entwicklungen" stellen also lediglich andere Formen dar, diese Annahmen in die Praxis umzusetzen. Dabei geht es um Fragen wie die Rolle des Staates, das Eigentum an Ressourcen und Produktionsmitt eln, die Nutzung von Wissenschaft und Technik zur Verrin-gerung der Umweltschäden oder die Implementierung sozialer Kompensati-onsmaßnahmen, um die Folgen für die betroff ene Bevölkerung aufzufangen. Es herrscht eine große Vielfalt unter diesen „alternativen Entwicklungen", von denen einige dem klassischen Kapitalismus angehören und andere Reformen im Geist des Sozialismus anstreben. In allen Fällen wird Entwicklung jedoch grundlegend als materieller Fortschritt aufgefasst.
„Alternativen zu Entwicklung" zielen dagegen auf einen substantiellen Wan- del dieser konzeptionellen Grundlagen von Entwicklung ab. Bloße Veränderun-gen im Instrumentarium werden dabei als nicht ausreichend angesehen, es wird der Glaube an einen notwendigen und unvermeidlichen materiellen Fortschritt aufgegeben, an die Linearität der Geschichte und an die Notwendigkeit von Na-turaneignung für das Wirtschaft swachstum. Die klassische Fortschritt sidee west-lichen Ursprungs wird in Zweifel gezogen und es wird nach Alternativen gesucht, die anderen Vorstellungen von Wohlstand und gutem Leben entsprechen.
Es existiert zunehmender Konsens darüber, dass Auswege aus dem Extrakti- vismus nicht allein in „alternativen Entwicklungen" bestehen dürfen, sondern dass viel tiefer gehende Veränderungen notwendig sind. Daher müssen post-extraktivistische Konzepte in direktem Zusammenhang mit den „Alternativen zu Entwicklung" stehen. 1 . Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stift ung sowie weiteren Akteuren, von denen vor allem das Andine Zentrum für die Aktion der Bevölkerung (CAAP) zu nennen ist (für mehr Information dazu vgl. die Beiträge in: Alayza & Gudynas 2011).
Der Neue Extraktivismus Die unmitt elbaren Ziele solcher Alternativen bestehen im Kontext Südame- rikas darin, die Armut zu beseitigen, Wohlstand für die Menschen zu gewähr-leisten und die Vielfalt der Natur zu erhalten. Einfacher gesagt heißt das: Keine Armut und keine Umweltzerstörung. Diese zwei Ziele sind gleichrangig, was kein unbedeutendes Detail ist: Der Einsatz für die Umwelt erhält diesen Rang in Anerkennung der Rechte der Natur. Aus einer solchen Perspektive müssen tiefgreifende Veränderungen an den aktuellen Entwicklungsstrategien vorge-nommen werden, jeweils angepasst an den sozialen und ökologischen Kontext und unter Aufgabe des westlichen Entwicklungsmodells an sich.
In der südamerikanischen Debatt e, insbesondere vor dem Hintergrund der bedeutsamen politischen Umwälzungen durch die progressiven Regierungen, rückte die Frage in den Vordergrund, wie solche Veränderungen zu bewerkstel-ligen seien. Einerseits bestehen die konventionellen Maßnahmen, Reformen am Instrumentarium durchzuführen, fast immer in einer bloßen „Entwicklung der Instrumente". Andererseits erscheint eine radikale, revolutionäre Reform aus verschiedenen Gründen nicht gangbar. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass eine Verbreiterung der sozialen Basis zur Unterstützung solcher Verän-derungen unabdingbar ist, diese Veränderungen zugleich aber immer an den jeweiligen sozialen und ökologischen Kontext angepasst sein müssen und so-mit kein einheitliches Konzept darstellen können. Anders gesagt: Es gibt kein „Patentrezept" für eine „Alternative zu Entwicklung", das man einfach überall überstülpen könnte; sie muss jeweils selbst entwickelt werden, mit eigenen Versuchen, Fehlern und Lerneff ekten.
Daher soll hier ein Ansatz von „Transitionen" vertreten werden. Diese müs- sen jedoch immer bestimmten Anforderungen genüge leisten. Jeder einzelne der vorgeschlagenen Schritt e muss auf die „Alternativen zu Entwicklung" aus-gerichtet sein, die der Verhinderung von Armut und Umweltzerstörung ver-pfl ichtet sind. Gleichzeitig muss jeder Schritt bessere Voraussetzungen dafür schaff en, dass weitere Schritt e in diese Richtung gegangen werden können. Bei den Transitionen handelt es sich zugleich um einen demokratischen Prozess, in dem Bedingungen dafür geschaff en werden, dass die soziale Basis zur Un-terstützung solch radikaler Veränderungen verbreitert wird; letztere müssen allerdings fl exibel bleiben, um eine Anpassung an die jeweilige Situation und die notwendigen Lerneff ekte zu ermöglichen. Von den in den Transitionen anzuwendenden Maßnahmen sollen hier einige Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika hervorgehoben werden: deutliche Verringerung des Material- und Energiever-brauchs (also „Dematerialisierung" der Produktionsprozesse); Entkoppelung der Ziele dieser Alternativen von rein wirtschaft lichem Wachstum; Anpassung der Produktionsprozesse an die Fähigkeit der Ökosysteme, Ressourcen zu lie-fern und Umweltfolgen zu verkraft en, und somit Erhaltung der Biodiversität; Gestaltung der Produktionsprozesse in einer Form, die direkt zur Beendigung von Armut und zur Bekämpfung von Überfl uss beiträgt.
In die aktuelle Diskussion fl ießen zahlreiche Erfahrungen und Überlegun- gen ein. Einige davon sind sehr konkret und befassen sich beispielsweise mit Möglichkeiten einer „Entkoppelung" von Entwicklung und Wirtschaft swachs-tum ( Jackson 2009) oder mit Transitionen auf globaler Ebene (Parris/Kates 2003). Manche haben die Vernetzung lokaler Initiativen zu ökologischer Re-silienz zum Inhalt (die „transnationale Bewegung", Hopkins 2008). Andere schaff en eine fruchtbare Verbindung zwischen überliefertem und aktuellem Wissen, wie etwa bei der Agrarökologie. Schließlich sollen noch die Überle-gungen zum „guten Leben" Erwähnung fi nden, die auf den Ontologien ver-schiedener indigener Völker beruhen.
Zudem existieren einige Entwürfe von Regierungsseite, deren bestes Beispiel das Plädoyer für einen Post-Extraktivismus im ecuadorianischen Entwick-lungsplan ist (SENPLADES 2009). Auch wenn eingeräumt werden muss, dass das konkrete Handeln der Regierung Correa in eine andere Richtung weist, wurde in diesem Plan eine post-extraktivistische Ökonomie auf der Basis von Wissen und Dienstleistungen angestrebt.
Drei Arten des Extraktivismus
Will man über die Zusammenhänge zwischen Transitionen und Extraktivis-
mus sprechen, müssen zunächst drei Arten der Ressourcenextraktion vonein-
ander unterschieden werden (Bild 2, S. 149).
1) Plündernder Extraktivismus: Dies ist das aktuelle Entwicklungsmodell,
gekennzeichnet durch einen intensiven Extraktivismus, mit großer geogra-
phischer Reichweite, starken sozialen und ökologischen Auswirkungen sowie
zweifelhaft en Vorteilen für die nationale Entwicklung. Klassische Beispiele
sind Tagebaue, in denen die Rückstände nicht aufb ereitet werden, die Konta-
mination durch die Erdölförderung im Amazonasgebiet oder der Missbrauch
Der Neue Extraktivismus agrochemischer Produkte in exportorientierten Monokulturen. Dabei handelt es sich um Aktivitäten, die Enklavenökonomien schaff en, mit starker Präsenz multinationaler Konzerne, bei denen die sozialen und ökologischen Folgekos-ten externalisiert werden. Es handelt sich um den von der Globalisierung an-gestoßenen Extraktivismus, mit gigantischen Gewinnen für die Unternehmen, der von den südamerikanischen Regierungen als Einnahmequelle für ihre Ökonomien akzeptiert wird.
2) Behutsamer Extraktivismus: Man könnte zu einem zweiten Szenario
übergehen, bei dem beispielsweise die Bergbau- und Erdölprojekte tatsächlich
die sozialen und ökologischen Aufl agen und Normen erfüllen und die die zur
Minimierung der Umweltfolgen am besten geeignete Technologie verwenden,
der Staat ihnen wirksame und rigorose Kontrollen auferlegt, wo die Folge-
kosten in den Kosten und Preisen enthalten sind und andere Verbesserungen
durchgeführt werden. Gleichzeitig erfolgt eine angemessene Besteuerung, was
beinhaltet, dass ein gerechter Anteil der Gewinne derartiger Unternehmungen
abgeschöpft und weitestmöglich mit anderen nationalen oder regionalen In-
dustrialisierungsprojekten verknüpft wird.
Dieses Szenario entspricht einigen der alternativen Entwicklungen. Es resul- tiert aus einer wirksamen Anwendung gesetzlicher Bestimmungen, der Stär-kung von Governance in diesem Sektor und einer Umsetzung der Postulate von gesellschaft licher Unternehmerverantwortung. Dabei werden auch die sektor-spezifi schen Investitionen und Kapitalfl üsse transparent gemacht, so wie die Initiative für Transparenz in der Rohstoff wirtschaft (EITI) dies fordert. Diese auf die Anpassung und Korrektur der Instrumentarien ausgerichtete Stufe ist als Notmaßnahme sicherlich sehr wichtig, um die derzeitigen schweren Aus-wirkungen des plündernden Extraktivismus zu stoppen. Sie verlässt jedoch nicht den Rahmen konventioneller Entwicklungsmodelle.
3) Unverzichtbarer Extraktivismus: Ein dritt es Szenario versucht, den
Extraktivismus als Teil einer Alternative zu Entwicklung zu begreifen; hier
müssen andere konzeptionelle Fundamente zu Grunde gelegt werden. Eini-
ge extraktivistische Aktivitäten werden dabei aufrechterhalten, weil nicht auf
sie verzichtet werden kann, sie müssen jedoch deutlich verringert werden. Bei
dieser unverzichtbaren Extraktion oder Ausbeutung können jene Aktivitäten
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Bild 2. Schematische Darstellung der drei Arten des Extraktivismus im Hinblick
auf ihre sozialen und ökologischen Folgen und die wirtschaft liche Export-abhängigkeit. bestehen bleiben, die wirklich notwendig sind. Sie müssen sozialen und öko-logischen Anforderungen entsprechen, direkt mit nationalen oder regionalen Produktionskett en in Verbindung stehen und Verbrauchsnetzen für eine wirk-liche Verbesserung der Lebensqualität zu Gute kommen.
Dieses Modell ist Teil einer „Alternative zu Entwicklung", bei der viel weni- ger Material und Energie verbraucht werden, die Kohlenstoffb ilanz niedriger ausfällt und der Verbrauch sparsamer, dafür aber direkt mit der Lebensqualität und dem Schutz der Natur verknüpft ist. Die Orientierung auf globale Exportewird dabei drastisch reduziert, Bergbau- und Erdölförderung dienen vor einer globalen Nutzung zuallererst der nationalen und kontinentalen Nachfrage.
Leitlinien der Transitionen
Die Transitionen zum Post-Extraktivismus sind an den Alternativen zu Ent-
wicklung ausgerichtet und zielen daher auf die unverzichtbare Extraktion ab,
mit der sowohl die Lebensqualität als auch der Schutz der Natur gewährleistet
Der Neue Extraktivismus sind. Da es sich jedoch um Transitionen handelt, müssen zunächst erste Schrit-te unternommen werden. Dies liegt auch an der gebotenen Dringlichkeit, denn es ist sehr wichtig, dem derzeitigen plündernden Extraktivismus zu begegnen und Auswege zu fi nden. Es gibt Gemeinschaft en, die aufgrund ihres Leidens unter den sozialen und ökologischen Folgen sofortiger Lösungen bedürfen. In diesen Fällen muss der behutsame Extraktivismus greifen.
Der behutsame Extraktivismus darf nur als Notfallmaßnahme betrachtet werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen des heutigen Extraktivis-mus zu verringern. Es geht hier nicht um eine tragfähige Lösung, sondern um notwendige und dringende Maßnahmen zur Abmilderung schwerer Folgen für Bevölkerung und Umwelt. Die Maßnahmen dürfen jedoch nicht rein in-strumenteller Natur sein, sondern müssen darauf gerichtet und so organisiert sein, dass sie weitere Schritt e der Veränderung hin zu einer Alternative zu Ent-wicklung ermöglichen. In diesem Abschnitt soll auf einige Leitlinien der Transitionen auf dem Weg zum behutsamen und unverzichtbaren Extraktivismus eingegangen werden. Auch wenn diese hier getrennt voneinander vorgestellt werden, muss man sich bewusst machen, dass sie in Wirklichkeit in Zusammenhang miteinander stehen und mehr oder minder koordiniert voranzutreiben sind. Insbesondere ist es not-wendig, die nationalen und internationalen Transitionen miteinander zu koordi-nieren sowie die technischen Möglichkeiten mit dem politischen Handeln.
Aufl agen und Vorgaben, Governance und Partizipation
Es gibt weitreichende Belege dafür, dass viele extraktivistische Projekte be-
trieben oder akzeptiert werden, obwohl sie den Umwelt-, Gesundheits- oder
Sozialgesetzgebungen des jeweiligen Landes zuwiderlaufen. In einigen Fällen
gewährt sogar der Staat selbst Ausnahmen und Flexibilitäten, durch die das
Verletzen der Normen legitimiert wird. Die vermutlich skandalöseste Situati-
on in Südamerika ist in Peru vorzufi nden, mit den Ausnahmen, Flexibilitäten
und Gesetzesverstößen des Bergbau- und Eisenkomplexes La Oroya.
Ein unabdingbarer Schritt zur Einleitung der Transitionen besteht daher darin, mit der Durchsetzung bestehender Umwelt- und Sozialbestimmungen zu beginnen und diese in den fehlenden Bereichen zu ergänzen (etwa bei den Vorgaben für Abgas-, Abwasser- und Abfallemissionen oder Raumordnungs-verfahren). Hier muss umgehend eine Klärung statt fi nden, unter welchen Be- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika dingungen ein extraktives Projekt akzeptabel ist, und unter welchen nicht.
Ein angemessener grundlegender Rahmen würde ermöglichen, zwischen „verbotenen" extraktivistischen Unternehmungen und solchen, die durchge-führt werden können, zu unterscheiden. Bei letzteren ist wiederum zwischen zwei Formen zu unterscheiden: zwischen jenen Projekten, die akzeptabel sind, da sie die sozialen und ökologischen Anforderungen erfüllen und gleichzei-tig positive Ergebnisse für Gesellschaft und Wirtschaft liefern, und jenen, die „denkbar" sind, da sie in einer Dimension Vorteile, in einer anderen jedoch Nachteile bringen (beispielsweise hohe wirtschaft liche Rentabilität, aber ver-schiedene ökologische Auswirkungen nach sich ziehen, Bild 3). Die Erfüllung dieser Aufl agen würde in einer behutsamen Extraktion resultieren. Durch das Voranschreiten der Transitionen, sei es durch bessere Bestimmungen oder durch die Verfügbarkeit anderer Möglichkeiten, gelangt man schließlich zum unverzichtbaren Extraktivismus.
Notwendig dabei ist, alle Dimensionen der extraktivistischen Projekte zu evaluieren, nicht nur ihre Rentabilität, wie es derzeit geschieht, sondern auch den ökonomischen Aufwand sowie die sozialen und ökologischen Folgen. Dies muss in einer rechtmäßigen und pluralen Atmosphäre demokratischer Bild 3. Schematische Darstellung eines konzeptionellen Rahmens zur
Einbeziehung der ökologischen Dimension in die Projekt-Evaluation.
Der Neue Extraktivismus Diskussion statt fi nden, wo Risiken, Folgen und möglicher Nutzen gegeneinan-der abgewogen werden. Die letztendliche Entscheidung über „erwägenswerte" Projekte darf nicht allein von Fachleuten und Minister_innen getroff en wer-den, sondern bedarf eines inklusiven Diskussionsprozesses.
Es ist hinlänglich bekannt, dass Sozial- und Umweltstandards im extraktivis- tischen Sektor schwer durchzusetzen sind, da hier gewaltige Interessen im Spiel sind. Es ist daher notwendig, einerseits demokratische Governance zu stärken und andererseits den ökonomischen Reduktionismus in der Analyse zu beenden.
Wirtschaft , Preise und Wert
Ein Großteil des Widerstands gegen den Post-Extraktivismus stützt sich auf
das Argument, eine Verringerung der Exporte aus Bergbau und Erdöl würde
den Zusammenbruch der nationalen Ökonomien bedeuten. In Erwiderung
darauf muss zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass der konventionel-
len Ökonomie neoklassischer Provinienz strenge Grenzen gesetzt sind, wozu
eine defi zitäre Bestimmung ökonomischer Werte gehört. Derzeit fl ießen die
sozialen und ökologischen Kosten nicht in die Rohstoff preise ein. Es handelt
sich um verfälschte Preise, welche die externen Eff ekte nicht internalisieren.
Ein erster Schritt in Richtung jeglicher Alternative besteht in der sozialen und
ökologischen Korrektur dieser Preise.
In der Konsequenz müssten die Kosten-Nutzen-Analysen so umgearbeitet werden, dass sie auch die sozialen und ökologischen Kosten enthalten. Bisher waren diese jedoch extrem simpel. Sie enthielten lediglich die Kosten für bei-spielsweise den Kauf von Maschinen oder die Zahlung von Löhnen, nie je-doch die Kosten für den Verlust von Naturkapital, für Umweltverschmutzung oder Umsiedelung von Gemeinschaft en. Würde man damit beginnen, Kosten-Nutzen-Rechnung und -Analyse mit Ernsthaft igkeit zu betreiben, würden die Kosten natürlich steigen und verschiedene extraktivistische Unternehmungen wären nicht mehr vertretbar.
Die ökonomische Wertermitt lung ist ebenfalls mangelhaft . Es ist notwendig, die Wertermitt lung auf andere Dimensionen auszudehnen, etwa ökologische, ästhetische, kulturelle Werte etc., was die Verwendung sogenannter Multikri-terien-Analysen implizieren würde.
Eine ökologische und soziale Korrektur der Preise für extraktivistische Roh- stoff e würde mit Sicherheit höhere Werte zur Folge haben, was möglicherwei- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika se auch ein geringeres Exportvolumen bedeuten würde, wodurch wiederum die Staatseinnahmen sinken würden. Daher wäre ein erster Schritt die Über-prüfung der Steuerlasten im Bergbau.
Abgaben und Steuern sind heute in vielen extraktiven Bereichen sehr nied- rig, beziehungsweise existieren Möglichkeiten zu ihrer Umgehung. Daher ist eine grundsätzliche Veränderung der Steuerpolitik in diesem Sektor notwen-dig. Da die extraktiven Unternehmungen derzeit eine enorme Rentabilität auf-weisen (37 Prozent im Zeitraum 2008/09), ist es möglich, hier die Steuerlast zu erhöhen. In diesem Sinne haben Sotelo und Francke (2011) ein Szenario untersucht, das von der Stilllegung der zwischen 2007 und 2011 gestarteten extraktiven Projekte in Peru ausgeht, was einem behutsamen Extraktivismus nahe kommen würde. In diesem Fall würde es demnach zu Exportverlusten in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar kommen, wobei die Verringerung der internationalen Nett oreserven Perus erträglich wäre. Würde man jedoch noch einen Schritt weiter gehen und daneben auch die Erträge der weiterhin produ-zierenden Unternehmen besteuern, würde sich dies sogar positiv auf die Zah-lungsbilanz auswirken sowie einen Anstieg der internationalen Reserven nach sich ziehen.
Was den Handel angeht, ist davon auszugehen, dass bei einer Preiserhöhung für Primärprodukte die internationalen Käufer_innen andere Anbieter_innen suchen, oder versuchen, für einen Ersatz durch eigene Ressourcen zu sorgen. Dies könnte einigen warnenden Stimmen zufolge einen Einbruch des Außen-handels zur Folge haben – was vermutlich eines der am häufi gsten geäußerten Gegenargumente gegen die Transitionsmodelle ist.
Hier müssen mehrere Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Zuallererst ist die regionale Koordination und Harmonisierung zwischen den verschiedenen lateinamerikanischen Staaten notwendig, sowohl bei den Exportpreisen als auch bei den Sozial- und Umweltaufl agen für Investoren. Eine solche Koordina-tion ist nötig für die Preiskontrolle. Dadurch könnte vermieden werden, dass die extraktivistischen Unternehmen einen Staat zu isolieren versuchen, indem sie die Rohstoff e einfach in den Nachbarländern kaufen. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Extraktive Th emen müssen einen Platz innerhalb der Verhandlungen über die regionale Integration einnehmen (ein Punkt, der weiter unten noch diskutiert werden soll). Die Erfahrungen bei der Kontrolle von Preisen und Ak-tien im internationalen Handel müssen wieder nutzbar gemacht werden.
Der Neue Extraktivismus Da es jedoch mit Sicherheit nicht möglich sein wird, für alle Ressourcen Alternativanbieter_innen oder Ersatz zu fi nden, deutet alles darauf hin, dass ein gewisser Außenhandel mit extraktivistischen Waren weiter bestehen wür-de. Sicherlich wäre das Exportvolumen niedriger, ein Teil dieser Verringerung würde jedoch durch höhere Weltmarktpreise kompensiert.
Es gibt allerdings noch eine andere ökonomische Kompensation, denn (verdeckte oder off ene) Subventionen für extraktivistische Unternehmungen würden entfallen. Tatsächlich ist es weit verbreitet, dass Regierungen bei dem Versuch Investitionen „anzulocken", Unterstützungen in Form von Infrastruk-tur, Energie oder Steuererleichterungen gewähren. Dabei handelt es sich um verdeckte Subventionen, durch die der Staat den Extraktivismus fördert. Bei diesen „perversen Subventionen" fi ndet ein richtiggehender Transfer von der Gesellschaft zum Großkapital statt .
In den post-extraktivistischen Transitionen werden solche Praktiken abge- . Da der Staat die perversen Subventionen nicht mehr fi nanziert, kann er das dadurch „Gesparte" für Produktionsumstellungen verwenden. Das soll nicht heißen, das Subventionen völlig aufgegeben werden sollten, vielmehr geht es darum, nur noch „legitime Subventionen" zu zahlen, mit denen Aktivi-täten gefördert werden, die zu einer verhältnismäßig größeren Beschäft igung führen, eine sauberere oder weniger umweltschädliche Produktion und mehr Produktionskett en in der Wirtschaft zur Folge haben.
Solche Argumente haben dazu geführt, dass in Südamerika damit begon- nen wurde, die staatlichen Etats zu überprüfen. In vielen Fällen existieren Verschwendung oder perverse Subventionen. Das Problem sind nicht immer fehlende Mitt el, vielmehr geht es darum, öff entliche Ausgaben effi gestalten und angemessene Zwecke zu defi nieren.
Eine weitere häufi g geäußerte Befürchtung in Bezug auf die Alternativen zu Entwicklung betrifft den Verlust von Arbeitsplätzen. Die verfügbaren Zahlen zeigen, dass der Extraktivismus relativ wenig Arbeitsplätze schafft weise 1,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Peru, unter ein Prozent in Ecuador; Sotelo/Francke 2011; Varela 2010). Zum anderen zerstört die An-siedlung extraktiver Projekte viele lokale Arbeitsplätze, etwa in der Landwirt-schaft , woraus sich eine Menge Fragezeichen im Hinblick auf die tatsächliche Endbilanz ergeben. Eine post-extraktive Transition muss also Produktionsbe-triebe mit einem hohen Bedarf an Arbeitskräft en vorantreiben. Hier können Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika die Rückkehr und die Stärkung der Landwirtschaft wegweisend sein, insbe-sondere ihrer biologischen und agrarökologisch ausgerichteten Zweige.
Es wird auch notwendig sein, Arbeitsstellen im industriellen Sektor zu di- versifi zieren und auszubauen, sowohl was die Betriebe angeht, als auch die mit ihnen verbundenen Dienstleistungen. Internationale Erfahrungen haben beispielsweise gezeigt, dass die Verschärfung von Umweltnormen im Indus-triesektor dazu geführt hat, dass mehr Stellen geschaff en werden, als durch die Schließung „schmutziger" Industrien verloren gehen. Das ist dem Umstand geschuldet, dass Tätigkeiten im Umweltschutz, etwa die Kontaminationsüber-wachung in einer Fabrik, von Menschen ausgeübt werden müssen und nicht automatisiert werden können.
Prozessentkoppelung
In den Transitionen zum Post-Extraktivismus werden verschiedene Wirt-
schaft skreisläufe voneinander getrennt oder entkoppelt. Ein Beispiel ist der Ex-
port von Rohstoff en mit dem Ziel, die Importe (Kapital- oder Güterimporte)
aufrecht zu erhalten. Diese Zusammenhänge werden üblicherweise monetär
erfasst, verwendet man jedoch physische Indikatoren, stellen sich viele Über-
raschungen ein. Vergleicht man etwa für Ecuador die Höhe der Exporte in
Tonnen mit der Tonnenanzahl der Importe (in einer sogenannten physischen
Handelsbilanz), so lässt sich von 1972 an ein wachsender Exportüberschuss
feststellen, der 2006 bei 20 Millionen Tonnen lag im Vergleich zu damals fünf
Millionen Tonnen. Der Saldo der monetären Handelsbilanz sank hingegen
von 1970 bis 2007 jedes Jahr um durchschnitt lich 1,3 Prozent (Vallejo 2010).
Dieses abartige Verhältnis muss zerstört werden, sowohl durch eine Preis- korrektur als auch durch die Aufgabe seiner wesenhaft en Struktur, dem Kauf von Produkten auf dem Weltmarkt, bei denen es sich vielfach um Luxusgüter mit gravierenden sozialen und ökologischen Auswirkungen handelt.
Im Post-Extraktivismus wird auch die Entkoppelung des Wirtschaft swachs- tums von der anderweitigen Entwicklung angestrebt, vor allem von einer an Wohlstand orientierten. Dazu liegen viele Erkenntnisse vor, insbesondere in Be-zug auf die Möglichkeiten der Armutsbekämpfung und Schaff ung von mehr Ge-rechtigkeit, ohne lediglich auf Verteilungseff ekte zu vertrauen. Es muss jedoch betont werden, dass eine solche Entkopplung von anderweitiger Entwicklung und Wachstum nicht zwangsläufi g einen „Wachstumsrückgang" beinhaltet.
Der Neue Extraktivismus Momentan herrscht einiges an Verwirrung über diesen Begriff , der leicht- fertig von Europa auf Lateinamerika übertragen wird. Seinem bekanntesten Befürworter zufolge war Wachstumsrückgang in seiner ursprünglichen Be-deutung eine fundamentale Kritik an der konventionellen Entwicklung (La-touche 2009). Andererseits existiert eine aktuellere Interpretation, die eine Wirtschaft sreduktion anstrebt, so wie beispielsweise von Joan Martínez Alier (2008) konzipiert. Dabei geht es um einen Wachstumsrückgang als „Verklei-nerung", so lange dieser „sozial" nachhaltig ist. Eine solche Veränderung wäre für Lateinamerika jedoch sehr riskant, denn man kann nicht verlangen, eine nationale Ökonomie im Ganzen zurückzufahren. Dadurch werden nicht die Ungleichheiten im Zugang zu Wohlstand beseitigt, notwendiges Wachstum in bestimmten Bereichen (etwa Hygiene und Gesundheit) bleiben unberück-sichtigt und insgesamt werden die eigentlichen Entwicklungsprobleme der Region dabei nicht angegangen. Wachstumsrückgang als Kontraktion ist ver-ständlich für Ökonomien mit hohem Konsum und Überfl uss, wie dies etwa für Deutschland gilt. Das Konzept kann jedoch nicht leichtfertig auf Lateina-merika übertragen werden.
Ein Wachstumsrückgang im ursprünglichen Sinne Latouches, für den er „ein politischer Slogan mit theoretischen Implikationen" ist, um „mit der stereo-typen Sprache der Anhänger des Produktionsfetischismus zu brechen" (La-touche 2009), ist jedoch vollständig mit den hier vorgestellten Transitionen vereinbar. Dennoch existieren in Lateinamerika bereits tradiertere und gän-gigere Bezeichnungen, vor allem der Begriff der „Post-Entwicklung", wie er von dem Mexikaner Gustavo Esteva und dem Kolumbianer Arturo Escobar geprägt wurde.
Das Konzept einer „Post-Entwicklung" stift et bei der Rezeption in Latein- amerika zugleich weniger Verwirrung als das eines „Wachstumsrückgangs". Selbst in einem post-extraktivistischen Szenario für Südamerika muss es in einigen Bereichen ein Wachstum geben (beispielsweise bei der Infrastruktur für Gesundheit, Wohnraum, Bildung oder Hygiene), in anderen jedoch einen Rückgang (etwa bei Luxusgütern).
Armut und Sozialpolitik
Die post-extraktivistischen Transitionen müssen ganz klar auf die Beendigung
der Armut ausgerichtet sein. Dieses Ziel muss ehrgeiziger und schneller ange-
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika gangen werden, als beispielsweise bei den Millenium-Entwicklungszielen, die nur eine Reduktion anstreben. Es geht nicht darum, die Armut zu verringern, sondern sie vollständig zu beseitigen.
Dies beinhaltet beispielsweise eine gute Ernährung, Zugang zu Gesundheit und Bildung sowie eine gute Lebensqualität zu gewährleisten. Finanzielle Leis-tungen hingegen werden nur als Notfallmaßnahme und Zwischenschritt inner-halb einer Transition befürwortet (abgesehen von der Übereinstimmung mit der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, wobei die-ses auf einer anderen konzeptionellen Basis beruht und anders funktioniert). Es wäre beispielsweise ein Leichtes, die Mangelernährung in Südamerika zu beseitigen, da der Subkontinent eine Lebensmitt el exportierende Region ist. Die zu ergreifende Maßnahme besteht darin, die Produktion wieder auf die nationalen und regionalen Bedürfnisse auszurichten, anstatt Lebensmitt el als „Waren" oder Tierfutt er für den Weltmarktexport zu produzieren.
Die Instrumente fi nanzieller Transfers an die Ärmsten sind als Übergangs- maßnahme akzeptabel. Sie sollten allerdings vor allem als Notfallmaßnahme verstanden werden, mit denen die am meisten verwundbaren Gruppen der Ge-sellschaft aus Not und extremer Armut befreit werden können, jedoch nicht als dauerhaft es Mitt el. Es ist zudem erforderlich, die Diskussionen über die Einfüh-rung eines bedingungslosen Grundeinkommens wieder aufzunehmen, das mit Sicherheit nicht aus dem Extraktivismus fi nanziert werden kann. Die Debatt e ist nicht neu, insbesondere bei zivilgesellschaft lichen Organisationen; sie wur-de jedoch nicht einmal von den progressiven Regierungen aufgegriff en. Daher ist es ebenso notwendig, einerseits die Rolle des Staats neu zu verhandeln, vor allem bei der Verteilung der Staatsausgaben. Andererseits muss bei der Prioritä-tensetzung in der Produktion zunächst die Schaff ung von Arbeitsplätzen in den Blick genommen werden, bevor man auf Exportabsätze schielt. Das ist Aufgabe der Sozialpolitik, die wieder ernst genommen werden sollte.
Naturschutz und Rechte der Natur
Der Naturschutz hat neben der Beseitigung von Armut innerhalb der Modelle
der Alternativen zu Entwicklung höchste Priorität: Die Rechte der Natur müs-
sen anerkannt werden, so wie sie in der neuen ecuadorianischen Verfassung
verankert wurden. Außerdem müssen entschiedene Programme zum Schutz
der Natur aufgelegt werden, durch die das weitere Aussterben von Arten ver-
Der Neue Extraktivismus hindert und das Fortbestehen der Ökosysteme gesichert wird.
Bei der Erreichung dieser Ziele sind verschiedene Aspekte zu beachten. Wie bereits angeführt, müssen Naturschutzgesetze wirksam implementiert wer-den, statt diese auszuhöhlen oder zu missachten, um extraktivistische Projekte voranzutreiben. Dazu gehören Maßnahmen wie die Stärkung des Systems der Schutzgebiete oder die rigorose Anwendung von Umweltaufl agen und -kon-trollen.
Daneben wird auch die Ausdehnung des zu schützenden Anteils von Flächen in Naturschutzgebieten auf 50 Prozent gefordert. Die derzeit unter Schutz ste-henden Flächen reichen nicht aus, um das Überleben der Arten in langen, evolu-tionsgemäßen Zeiträumen zu gewährleisten. Um das zu erreichen, sind deutlich größere Umweltschutzgebiete notwendig (Noss & Cooperrider 1994).
Weiterhin ist eine Anpassung der Raumordnung erforderlich, die nicht nur von sozialer und wirtschaft licher Bedeutung ist, sondern ebenso im Hinblick auf die Umwelt. Auch hier ist die regionale Integration der Länder Südamerikas notwendig, damit kontinentale Schutzstrategien entworfen werden können.
Diese Aufl agen bedeuten nicht, dass jede Nutzung durch den Menschen oder gar dessen Anwesenheit in diesen Zonen verboten werden soll, vielmehr werden weniger umweltschädliche Projekte zulässig sein (etwa die agraröko-logische Produktion). Es wird wichtiger werden, die Produktionstypen einer Ökoregion mit denen anderer Einwohner_innen zu verbinden.
Eine neue Integration und die Selbstbestimmung
gegenüber der Globalisierung
Die neuen sozialen, wirtschaft lichen und ökologischen Gegebenheiten der
post-extraktivistischen Transitionen führen zu höheren Kosten und einge-
schränkten Investitionsmöglichkeiten. Daher ist anzunehmen, dass viele Kon-
zerne die Investitionen in einem Land mit derartigen Bedingungen aufgeben,
um einfach in andere Länder weiterzuziehen, die noch im extraktivistischen
Modell verhaft et sind.
Dieses Szenario ist realistisch und bedarf genauerer Betrachtung. Im Ergeb- nis dürfen die Transitionen jedoch nicht für falsch erklärt oder aus Resignation das derzeitige Modell beibehalten werden. Im Gegenteil: Die Lösung dieses Problems liegt wiederum auf internationaler Ebene. Gruppen von Staaten müssen ähnliche Vorgaben und Aufl agen koordiniert einführen und die Har- Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika monisierung sozialer, ökologischer und wirtschaft licher Th emen erreichen. Dies würde ein „Weiterwandern" der extraktiven Projekte in Länder mit nied-rigeren Standards verhindern.
Dafür muss allerdings die regionale Integration anders organisiert werden. Staatenbündnisse, wie die Andengemeinschaft oder der MERCOSUR, müs-sen wieder mit Macht ausgestatt et werden. Sie müssen Raum für die Verhand-lung von beispielsweise regionalen Abkommen für den Bergbau-, Erdöl- oder Landwirtschaft ssektor bieten, in denen die Sozial- und Umweltstandards zwi-schen den Ländern harmonisiert werden. Zurzeit werden solche Abkommen innerhalb der Staatenblöcke nicht verhandelt. Tatsächlich konkurrieren die beteiligten Staaten untereinander und bieten ihre Rohstoff e im Rahmen des sogenannten off enen Regionalismus feil, der von der UN-Wirtschaft skom-mission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) angeregt wurde und der Globalisierung dient.
Die post-extraktivistischen Transitionen bedürfen der regionalen Koordina- tion und Verknüpfung der Produktion sowie der Erlangung der Selbstbestim-mung gegenüber der Globalisierung. Diese Position wurde als „autonomer Regionalismus" bezeichnet, um sie klar von der „off enen" Version der CEPAL abzugrenzen. Die regionale Koordination muss sich in der Rohstoff politik so-wohl auf die Produktion als auch auf die Umwelt beziehen, wo sich die Länder im Zugang zu notwendigen Naturressourcen ergänzen. Gleichzeitig müssen auch Fertigung und Dienstleistungen koordiniert werden, damit eine eigene Industrialisierung ermöglicht wird und der Kreislauf durchbrochen wird, der dazu zwingt, den Weltmarkt zum Kauf von Fertiggütern mit Rohstoff en zu be-liefern. Die nationalen Industrien müssen gestärkt werden, jedoch in regiona-ler Zusammenarbeit, mit auf mehrere Länder verteilten Produktionskett en.
Off ene Chancen und mögliche Wege
In diesem Beitrag sind einige zentrale Elemente zur Eröff nung von neuen
Wegen möglicher Transitionen zum Post-Extraktivismus dargestellt worden.
Die Debatt e wird, mit je eigenen Schwerpunkten, in verschiedenen Ländern
Südamerikas geführt. Der bereits zurückgelegte Weg, vor allem in den An-
denstaaten, ist dabei sehr wichtig. Es wird eine Vielzahl von Informationen, Al-
ternativen und Maßnahmen diskutiert, die sich mit eigenen Untersuchungen
in Südamerika befassen oder Refl exionen aus anderen Ländern aufgreifen.
Der Neue Extraktivismus Die Schaff ung von post-extraktivistischen Transitionen bedarf politischer Akteur_innen. Verschiedene Organisationen und zivilgesellschaft liche Bewe-gungen fi nden hier zusammen. Die Aufgabe ist besonders komplex, da diese Art von Transitionen eine Neuorientierung politischer und parteilicher Posi-tionen erfordert. Zum einen liegt ein Großteil der Antworten nicht notwendi-gerweise im Bereich der alten politischen Traditionen, zum anderen muss die Konstruktion von Alternativen in Südamerika unbedingt plurikulturell organi-siert sein. Transitionen sind von ihrem Wesen her nicht einheitlich, sie vollzie-hen sich in der Pluralität von Werten und gesellschaft lichen Auff assungen. Alle eint jedoch das Bewusstsein von der Dringlichkeit, mit der die sozialen und ökologischen Auswirkungen des derzeitigen Extraktivismus anzugehen sind.
Literatur
Alayza, Ana & Eduardo Gudynas [Hg.] (2011): Transiciones. Post extracti-
vismo y alternativas al extractivismo
; Lima: CEPES, RedGE & CLAES.
Hopkins, R. (2008): Th e transition handbook; Chelsea Green: White River Junction.
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Latouche, S. (2009): Pequeño tratado del decrecimiento sereno; Barcelona: Icaria.
Martínez Alier, J. (2008): „Decrecimiento sostenible"; In: Ecología Política; Nr.35, April, Paris, S. 51-58.
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Parris, T.M. & R.W. Kates (2003): „Characterizing a sustainability transition: Goals, targets, trends, and driving forces"; In: Proceeding National Academy Sciences,100(14), S. 8068-8073.
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Vallejo, M.C. (2010): „Perfi l socio-metabólico de la economía ecuatoriana"; In: Ecuador Debate, Nr. 79, Quito, S. 47-60.
Varela, M. (2010): „Las actividades extractivas en Ecuador"; In: Ecuador Debate, Nr. 79, Quito, S. 127-149.
Anmerkung
Der Beitrag des Autors wurde aus dem Spanischen übersetzt.
Der Neue Extraktivismus Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Der Neue Extraktivismus Über die Autor_innen Alberto Acosta ist ecuadorianischer Wirtschaft swissenschaft ler, Professor und Forscher an der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaft en (FLACSO). Von Januar und Juni 2007 war er Minister für Energie und Bergbau, zwischen November 2007und Juli 2008 Präsident der Verfassunggebenden Versammlung.
Norma Giarracca ist Soziologin, Professorin und Forscherin am Institut Gino Germani der Fakultät für Geisteswissenschaft en an der Universität Buenos Aires (UBA).
Eduardo Gudynas ist Direktor des Lateinamerikanischen Zentrums für Soziale Ökologie (CLAES) in Montevideo, Uruguay.
Tobias Lambert ist Politikwissenschaft ler, Redaktionsmitglied der Monatszeitschrift Lateinamerika Nachrichten und freier Mitarbeiter des FDCL.
Miriam Lang leitet das Büro der Rosa Luxemburg Stift ung in Quito, Ecuador.
Tomás Palmisano ist Doktorand und Forscher am Institut Gino Germani der Fakultät für Geisteswissenschaft en an der Universität Buenos Aires (UBA).
Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Sarela Paz ist Doktorin der Anthropologie und Dozentin. Sie forscht zu indigenen Territorien, natürlichen Ressourcen, Interkulturalität und Raumordnungspolitik. Im Indigenen Territorium Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) koordinierte sie den ersten Raumordnungsplan des Gebiets im Zeitraum 1992/93 und war an der Umweltstudie Evaluación Ambiental Estratégica del TIPNIS von 2011 beteiligt.
David Rojas-Kienzle studiert Politikwissenschaft en in Berlin und ist Redaktionsmitglied der Monatszeitschrift Lateinamerika Nachrichten.
Maristella Svampa ist Soziologin in Argentinien.
Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Luis Sandoval & Jake Johnston arbeiten im Center for Economic and Policy Research (CEPR), einer progressiven Denkfabrik in Washington D.C., USA (www.cepr.net).
Der Neue Extraktivismus Über die Herausgeber_innen Die Rosa-Luxemburg-Stift ung in Lateinamerika Inspiriert von den Ideen und Konzeptionen eines demokrati schen Sozialismus und solidarischer Zusammenarbeit setzt sich die der Partei DIE LINKE nahe stehende Rosa-Luxem burg-Stift ung weltweit dafür ein: • Teilhabe und Teilnahme an politischen Entscheidungen zu sichern und de- mokratische Beteiligung zu gewährleisten • den Zugang zu den Gütern der öff entlichen Daseinsfürsorge zu verteidigen und die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben aller zu schaff en • Netzwerke zivilgesellschaft licher Akteure zu stärken und Alternativen zum neoliberalen Wirtschaft smodell zu entwickeln • Konfl ikte friedlich beizulegen sowie Gegenwart und Zukunft geschichtsbe- wusst zu gestalten Gegenwärtig arbeitet die Rosa-Luxemburg-Stift ung in mehr als 50 Ländern mit etwa 200 Partnerorganisationen zusam men. Sie hat 14 Büros in den Re-gionen Mitt el- und Osteu ropa, Ost- und Südasien, westliches- und südliches Afrika, Süd- und Zentralamerika sowie im östlichen Mitt elmeerraum. In Lateinamerika ist die RLS mit drei Regionalbüros vertreten, von wo aus in insgesamt 14 Ländern der Region gearbeitet wird. Das Regionalbüro in Sao Paulo koordiniert seit 2003 die Arbeit in Brasilien, Argentinien, Chile, Uruguay und Paraguay. Seit 2008 arbeitet das Büro in Mexiko-Stadt in Mexiko, Guate-mala, Nicaragua, Costa Rica und Kuba. 2010 wurde das Büro in Quito eröff net und ist für die Länder Bolivien, Ecuador, Venezuela und Kolumbien zuständig.
Der Linksruck in Lateinamerika in den vergangenen Jahren weckt Hoff nun- gen auf soziale Gerechtigkeit. Die RLS bietet Räume, um diese Prozesse in der Region kontrovers zu disku tieren. Zentral ist dabei ein gleichberechtigter Erfahrungsaus tausch zwischen AkteurInnen aus Nord und Süd. Dabei spielt die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus in Lateinamerika eine wesentli-che Rolle. Welche Alternativen gibt es hierzu für die Region? Die RLS unter-stützt Partner, die daran arbeiten – sei es mit Analysen oder durch die Arbeit mit Betroff enen. Ein Schwerpunkt der politischen Bildungsarbeit fördert die Eine Debatt e über die Grenzen des Rohstoff modells in Lateinamerika Partizi pation von benachteiligten Gruppen, insbesondere Indigenen, Frauen, Jugendlichen sowie MigrantInnen. Eine Demokrati sierung der Gesellschaft ist nur möglich bei gleichzeitiger De mokratisierung der Information. Deshalb un-terstützt die RLS alternative Medien.
Mehr Informationen: htt p://www.rosalux.de Forschungs- und Dokumentationszentrum Das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. (FDCL) ist seit 1974 als Informations- und Kommunikationszentrum weit über die Grenzen Berlins hinaus Anlaufstelle und Treff punkt für Menschen und Gruppen, die sich über Lateinamerika informieren oder zu bestimmten Th emen engagieren wollen.
Diverse Projekte, politische Initiativen, Länderkomitees, MigrantInnengrup- pen und lateinamerikabezogene Medienprojekte arbeiten unter dem Dach des FDCL. Mit unserem Archiv leisten wir seit der Gründung des Vereins im Jahre 1974 einen kontinuierlich kritischen Beitrag zur Dokumentation der sozialen,wirtschaft lichen und politischen Entwicklungen in Lateinamerika und dessen Beziehungen zu den Ländern des „Nordens". Das FDCL hat eine internatio-nalistische Grundorientierung und versteht sich als Teil der bundesdeutschen Solidaritäts- und der weltweiten globalisierungskritischen Bewegung. Mit dem regionalen Fokus Lateinamerika/Karibik beschäft igen wir uns zum Beispiel mit den verschiedenen Aspekten der Globalisierung und den interna-tionalen Rahmenbedingungen für Entwicklung im Kontext des so genannten Nord-Süd-Verhältnisses. Außerdem mit Handels- und Entwicklungspolitik, Ökologie, Migration und Rassismus sowie den Beziehungen zwischen fort-schritt lichen Bewegungen und politischen AkteurInnen hier und in Lateina-merika. Das Eintreten für die politisch-bürgerlichen wie die wirtschaft lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte ist seit jeher ein zentrales Anliegen der Arbeit des FDCL.
Mehr Informationen: htt p://fdcl-berlin.de/en/wir/ Der Neue Extraktivismus Fotostrecke „Mineros de Potosí - Bolivia" Tausende Menschen arbeiten jeden Tag in den Minen von Potosí. Diese waren einstmals der wirtschaft liche Motor Boliviens, doch jetzt stecken sie in einer schweren Krise. Hunderte Kooperativen beuten die alten staatlichen Minen aus - ohne vernünft ige Arbeitsmaterialien und eine Beschwerdeinstanz. Fotograf: Olmo Calvo Rodriguez / Sub [Cooperativa de Fotografos] Über die Fotoautor_innen Sub [Cooperativa de Fotografos] ist keine Fotoagentur. Wir sind sechs Fotograf_innen und haben eine Webseite geschaff en, um unsere Fotos gemeinsam zu präsentieren. Wir sind Leute, die vereint arbeiten in kollekti-ven oder individuellen Projekten; Profi s, die Kontakte teilen; Freund_in-nen, die sich in einem Büro im Zentrum von Buenos Aires treff en, um aus Sub ein kollektives Mehr zu machen. Kontakt: Email: [email protected], Webseite: htt p://www.sub.coop/Inicio.php Disclaimer
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nigen Verantwortung der Autor_innen sowie der Herausge-
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Die vorliegende Publikation wurde publiziert im Rahmen des EU fi nanzierten Projektes Just Trade (www.just-trade.org). Das Projekt plädiert für eine stärkere Politikkohärenz zwischen der EU-Entwicklungs- und Handelspolitik mit Blick auf die Förderung von gerechter und nachhaltiger Entwicklung. Projektpartner sind: Ecologistas en Acción (Spanien), FDCL, Glopolis (Tschechische Republik), Pro-tect the Future (Ungarn) und das Transnational Institute (Niederlande).
Seit der Eroberung basiert die Ökonomie Lateinamerikas auf der Ausbeutung weniger Rohstoffe.
Der Extraktivismus, eine auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Agrarland für den
Export ausgerichtete Entwicklungsstrategie, prägt die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen
der meisten Länder des Subkontinents bis heute wesentlich. Die Folgen sind überwiegend negativ.

Die Begrenztheit der meisten Rohstoffe sowie die Mehrfachkrise des globalisierten Kapitalismus
machen eine Diskussion über Alternativen zu dem vom globalen Norden vorgelebten, auf fort-
währendem Wachstum basierenden Entwicklungsweg zwingend notwendig. In Lateinamerika hat
die Krise des Neoliberalismus im vergangenen Jahrzehnt in den meisten Ländern des Kontinents
(Mitte)-Linksregierungen an die Macht gebracht. Trotz erheblicher Unterschiede zwischen den
einzelnen Regierungen, versuchen diese in zentralen Punkten mit dem neoliberalen Erbe zu bre-
chen und die Rolle des Staates zu stärken.

Doch die ökonomische Fixierung auf den Export von Rohstoffen besteht weiter, teilweise sogar
in verstärktem Ausmaß. Dieser Neue Extraktivismus ist jedoch ökologisch und sozial auf Dauer
nicht tragfähig. Daher wird in Lateinamerika verstärkt über Alternativen nachgedacht. Die Rosa
Luxemburg Stiftung (RLS) und das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika
(FDCL) wollen mit der vorliegenden Publikation einen Beitrag dazu leisten, die Debatte um den
Neuen Extraktivismus in Europa bekannter zu machen.

Source: http://www.rosalux.org.ec/attachments/article/453/Der_Neue_Extraktivismus%20in%20LA_12.pdf

lentech.com.co

Graefes Arch Clin Exp OphthalmolDOI 10.1007/s00417-012-2226-y Visual outcomes and complications following posterioriris-claw aphakic intraocular lens implantation combinedwith penetrating keratoplasty Johannes Gonnermann & Necip Torun &Matthias K. J. Klamann & Anna-Karina B. Maier &Christoph v. Sonnleithner & Antonia M. Joussen &Peter W. Rieck & Eckart Bertelmann Received: 21 August 2012 / Revised: 31 October 2012 / Accepted: 21 November 2012

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34265_text section:34265 text section 14/1/11 10:34 Page 1 Caring for People with Dementiain Acute Care SettingsA Resource Pack for Staff SECTION 1Caring for people with Dementia in Acute Hospitals – A 10 Point Guide SECTION 2Alzheimers Society ‘This is me' - Patient Profile SECTION 3Cognitive Assessment